St.Gallen benennt Weg nach Stickereiarbeiterinnen «Lavedereweg»
Der «Lavedereweg» erinnert im Zentrum der ehemaligen Stickereiindustrie und nah den Arbeitendenquartieren an die Menschen hinter dem wirtschaftlichen Erfolg.
Wie die Stadt St.Gallen schreibt, entsteht im Geviert Lindenstrasse / Werkstrasse / Lindentalstrasse / Helvetiastrasse in St.Fiden eine neue Wohnüberbauung. Das Stadtparlament hat den entsprechenden Sondernutzungsplan am 21. Mai 2024 verabschiedet.
Durch die Wohnsiedlung führt künftig ein öffentlicher Weg. Der Stadtrat hat diesen Weg nun nach den Stickereiarbeiterinnen Regina, Anna und Olinda Laveder als «Lavederweg» benannt.
Seit 1902 kamen Frauen aus Laveder zur Stickereiindustrie nach St.Gallen
Laveder ist ein kleiner Weiler mit etwa 15 Häusern in der Gemeinde Gosaldo in der Provinz Belluno im Norden Italiens. Aus diesem kleinen Ort kamen ab 1902 junge Frauen nach St.Gallen, um in der Stickereiindustrie zu arbeiten.
Sie alle trugen nach ihrem Heimatort den Familiennamen Laveder. Sie arbeiteten unter anderem bei den Textilfirmen Sennhauser & Co., Rechsteiner-Hirschfeld & Co., Neuburger, Heine & Co., Schmid, Thoma, F. Jager, Zündt und Schmied.
Sie versahen ihre Arbeit als sogenannte Nachseherinnen, Schifflistickerinnen, Nachstickerinnen und Schifflifüllerinnen beziehungsweise Fädlerinnen. Meistens kamen sie im Herbst nach St.Gallen. Im Frühsommer reisten sie zurück nach Italien, um zu Hause beim Heuen zu helfen.
Die Laveder-Schwestern: Migration zwischen Italien und St.Gallen
Regina und Anna Laveder waren Schwestern, Olinda Laveder war deren Halbschwester. Regina Laveder (1888 – 1961) kam nur während zweier Jahre nach St.Gallen; ihr gefiel das Fädeln nicht und sie hatte andere Pläne.
1908 kehrte sie nach Italien zurück, um 1909 in die USA nach Pennsylvania auszuwandern, wo ihr Ehemann Matteo Carrera bereits seit einem Jahr arbeitete. 1914 reiste sie noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit ihren damals zwei kleinen Kindern zurück nach Italien nach Gosaldo und liess sich im Weiler Carrera, dem Geburtsort ihres Mannes, nieder. Ihr Ehemann folgte ihr nach dem Ende des Kriegs nach.
Der Bezug zu St.Gallen blieb indes bestehen. Vier ihrer Kinder emigrierten nach dem Zweiten Weltkrieg nach St.Gallen; zwei blieben bis zu ihrer Pensionierung, zwei sind hier gestorben. Anna Laveder (1890 – 1972) kam während zehn Jahren bis 1917 immer wieder nach St.Gallen. Sie heiratete in Italien und liess sich mit ihrem Mann in San Tomaso, ebenfalls in der Provinz Belluno, nieder.
Auf Dauer blieb Olinda Laveder (1896 – 1969) in St.Gallen. Sie heiratete 1928 den Italiener Umberto Tiziani, gebar fünf Kinder, von denen zwei im Kindesalter verstarben. Im Jahr 1936 wurde sie zur Witwe und musste ihre drei Kinder fortan selbst durchbringen. Ihre Nachfahrinnen und Nachfahren leben heute in vierter Generation in St.Gallen.
Erinnerung an Stickereiindustrie in St.Fiden
Die Lebensgeschichten der Geschwister Laveder zeugen von der wirtschaftlichen und sozialen Realität im St.Gallen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Stadt St.Gallen zählte damals zu den weltweit wichtigsten Stickereiproduktionsgebieten.
Allein in St.Fiden – vor der Stadtvereinigung 1918 noch die eigenständige Gemeinde Tablat – waren im Jahr 1905 31 Betriebe für die Stickereiindustrie tätig. Der Industriezweig zog in den Jahren der Hochblüte Arbeitskräfte in grosser Zahl an. Viele der Saisonarbeiterinnen und -arbeiter stammten aus Italien.
Das heutige Buchwaldquartier, wo Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in engen und ungesunden, armseligen Verhältnissen wohnten, war damals deshalb auch als «Klein-Venedig» bekannt.
Der Lavederweg erinnert im Zentrum der damaligen Industrie – in unmittelbarer Nähe zu den ehemaligen Standorten der Stickereifirmen August Breitenmoser an der Lindenstrasse und Hirschfeld & Cie. an der Helvetiastrasse – und einen Steinwurf entfernt von den einstigen Arbeitendenquartieren an die Menschen hinter dem wirtschaftlichen Erfolg.