Walter Angst: Vom Krawallmacher zum kompromissbereiten Ratskollegen
Die Medien nannten ihn einst den Krawall-Monopolisten des Landes: Walter Angst tritt nach 21 Jahren aus dem Gemeinderat im Zürcher Kreis 3 zurück.
Das Wichtigste in Kürze
- Walter Angst tritt nach 21 Jahren aus dem Gemeinderat im Kreis 3 zurück.
- Angst setzt sich für bezahlbaren Wohnraum ein und wurde als Lokalpolitiker respektiert.
- Statt im Gemeinderat sitzt der Politiker nun im Vorstand der AL.
«Ok», «mir egal», «können wir machen» – Walter Angst ist kein Mann der höflichen Floskeln. Nach einem kurz angebundenen Mail-Austausch treffen wir Angst in seinem Wohnquartier Wiedikon.
Über 20 Jahre lang sass der AL-Politiker für den Kreis 3 im Zürcher Gemeinderat. Am Mittwoch hatte er seine letzte Sitzung vor seinem Rücktritt.
Pünktlich fährt Walter Angst auf seinem Fahrrad bei der Haltestelle Binz vor und fragt, noch bevor er absteigt: «So, was machen wir?» Wir einigen uns auf einen Spaziergang durchs Quartier. Währenddessen zeigt sich der Mann hinter den «Angst macht Mut»-Plakaten von seiner charismatischen Seite. Er ist zielstrebig und erzählt gerne – wenig von sich, dafür umso mehr über Wohnpolitik.
Aus seiner Tätigkeit als Mediensprecher des Mieterinnen- und Mieterverbands kennt er jedes zweite Haus. Wenn er davon spricht, dass dieser Umbau überteuert oder jene Siedlung die soziale Durchmischung verhindert habe, lässt sich keine Spur der Verbitterung erkennen. Auch Groll hegt er keinen. Offenbar haben die Jahrzehnte missratener Wohnpolitik der rot-grünen Stadtregierung Angst nicht entmutigt.
Der 1961 geborene Wahlzürcher ist ein Sprössling der 80er-Jugendunruhen. Aufgewachsen als Pfarrerssohn in Wädenswil, wurde er am Gymnasium Rämibühl politisch aktiv. Angst beschreibt diese Zeit als befreiend und behütet zugleich.
Zwischen den Maturitätsprüfungen gingen er und seine Kommilitonen an Demonstrationen und kämpften bei den sogenannten Opernhauskrawallen für ein autonomes Jugendzentrum. «Züri brännt», hiess es damals. Doch wenn es Ärger gab, legten die Eltern ihre schützenden Hände über die Jugendlichen, meint Angst verschmitzt.
Der Krawall-Monopolist
Walter Angst liess sich zum Lehrer ausbilden, arbeitete aber nie auf dem Beruf. Stattdessen schrieb er als Redaktor für die sozialistische Zeitung «Vorwärts». Als Sprecher des Zürcher 1.-Mai-Komitees und als Koordinator der WEF-Proteste machte sich Angst vor mehr als zwanzig Jahren einen Namen. Auf sein Engagement beim 1. Mai angesprochen, zeigt sich der frühere Aktivist bescheiden – er scheint sich nichts aus Lorbeeren zu machen. Dabei hat Angst massgeblich dazu beigetragen, dass das Zürcher 1.-Mai-Fest zu einem schweizweiten Grossanlass wurde.
Weil er unter anderem die palästinensische Flugzeugentführerin Leila Khaled oder einen kolumbianischen Guerillero aufs Rednerpult eingeladen hatte, geriet er zunehmend in die Schusslinie bürgerlicher Kreise. Roger Schawinski nannte Angst in der Weltwoche den «unbestrittenen Krawall-Monopolist des Landes». Immer wieder wurde er dafür kritisiert, dass er sich zu wenig vom Schwarzen Block und den alljährlichen Ausschreitungen distanzierte. Die gleiche Kritik trifft auch heute noch jedes Jahr pünktlich zum 1. Mai auf das Organisationskomitee.
Sie hätten immer zu konkreten Ereignissen Stellung genommen und auch klar gesagt, was aus Sicht des Bündnisses nicht zulässig sei, meint Angst. Er drückt sich eloquent aus. Man merkt ihm seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund an: «Wenn dann wieder ein Demonstrant wegen des Einsatzes von Gummischrot ein Auge verliert, dann holt das natürlich wieder etwas von früher hervor.» Nach dem vergangen 1. Mai verlangte Walter Angst in einer Fraktionserklärung seiner Partei: «Das Auge-Ausschroten muss aufhören.»
Niklaus Scherr beschreibt Wädi, wie ihn die meisten nennen, als strategischen Kopf und Schnelldenker. Die beiden gehören sozusagen zum historischen Bestand der Alternativen Liste. Sie haben die Partei mitbegründet und waren zusammen im Mieterinnen- und Mieterverband tätig. «Wädi ist konzeptionell sehr stark, was auf der linken Seite sonst nicht massenhaft vorkommt», sagt Scherr über seinen alten Parteikollegen.
Als Angst 2002 in den Gemeinderat gewählt wurde, war sein Image mit einer enormen Hypothek belastet. Ultralinker Aktivist und Bürgerschreck – das hat ihm lange nachgehangen. Doch im Rat fiel der AL-Politiker vermehrt mit konstruktiven Vorschlägen und klugen Voten auf. «Das Bild, das man von mir gezeichnet hat, war immer ein Bild von aussen. Ich habe nie versucht, es zu korrigieren», gibt Angst zu bedenken. Durch seine realpolitischen Kompetenzen ist er im Laufe seiner Amtszeit zu einem bis weit in die Mitte respektierten Lokalpolitiker und Mietverbändler geworden. Auf Krawall hat er längst kein Monopol mehr, dafür auf alle Debatten rund um Mieterschaft.
Walter Angst hat sich für bezahlbare Wohnungen eingesetzt, bevor es zum Mainstream wurde. Seit 2009 ist er Kommunikationsleiter des Mieterinnen- und Mieterverbands Zürich. Keine Debatte über Mietrecht ohne Angst. Als wir bei der Siedlung Heuried ankommen, treffen wir auf eine Mieterin, die Petitionszettel verteilt, um sich gegen den Abbruch der Siedlung zu wehren. Schon von weitem winkt sie ihm zu – Angst ist so etwas wie ein Vorkämpfer für ihr Anliegen. Er hat ein offenes Ohr für ihre Sorgen. Doch als sie sich darüber entrüstet, dass der Mieterinnen- und Mieterverband eine Beschränkung der Wohnfläche pro Person fordert, muss Angst sie daran erinnern, dass er nicht der Verband sei, sondern nur dessen Sprecher. Freundlich, aber bestimmt wimmelt er sie ab.
«Ich gebe dem Reiz nach, jetzt auszubrechen»
Im Gemeinderat war Walter Angst grösstenteils in der Rechnungsprüfungskommission tätig, die er von 2016 bis 2018 auch präsidierte. Die Rechnungsprüfungskommission ist sozusagen das Vorzimmer des Stadtrats und eines der stärksten Gremien, über die das Stadtparlament verfügt. Der ehemalige Finanzvorsteher, Stadtrat Martin Vollenwyder, war dabei Angsts direkter Gegenspieler. Vollenwyder erinnert sich gerne an Angst: «Er konnte austeilen, hat es aber auch ertragen, wenn man zurückgab.»
Die beiden wurden am linken Seeufer sozialisiert – Vollenwyder als Sohn des Organisten in der Kirche von Angsts Vater. «Er hat die Debatte geliebt und wenn man sich danach wieder Grüezi sagen kann, ist das ehrenwert», so Vollenwyder.
In den zwei Jahrzehnten, die Walter Angst im Gemeinderat sass, hätte sich vieles verändert, sagt Angst. Früher hätten sich noch alle konsequent gesiezt, bis sich das lockere Duzis allseits durchsetzte. Einzig FDP-Gemeinderat Michael Schmid wartet manierlich bis zum letzten Tag darauf, dass ihm Angst, der sechs Jahre länger im Rat sitzt, offiziell das Du anbietet. Schmid schätze Angst für seine Reflektiertheit – und das, «obwohl er ein Urlinker ist», sagt Michael Schmid auf Anfrage.
Dass sie sich siezen, habe sich inzwischen zu einem «Running Gag» entwickelt. «Vielleicht bietet mir Walter Angst bei der letzten Sitzung noch das Du an», meint Schmid amüsiert. «Auf jeden Fall würde ich mich freuen, mich mit Angst auch nach seinem Rücktritt auf ein Bier zu treffen und über das politische Tagesgeschäft hinaus zu diskutieren.»
Seinem Amtsabtritt gehen mehrere Versuche voraus, den Sprung vom Gemeinderat in die Exekutive zu schaffen – zuletzt im Jahr 2022, als Angst die Nachfolge seines Parteikollegen Richard Wolff antreten wollte.
Die knapp verlorenen Stadtratswahl habe er gut überwunden, versicherte er damals gegenüber Tsüri.ch: «Es war die Wahl zwischen institutionellem Einfluss oder Unabhängigkeit. Unabhängigkeit ist höchst attraktiv.»
Unabhängigkeit scheint sich der 62-Jährige nun vollends zurückzuholen. Wir setzen uns auf eine Bank in der Nähe des Friedhofs Sihlfeld und fragen, wieso er nach 21 Jahren im Parlament genug habe. «Ich gebe dem Reiz nach, jetzt auszubrechen», meint Angst nebulös. Wie so oft weicht er persönlichen Fragen aus. Das Parlament bilde gesellschaftliche Verhältnisse ab, die ausserhalb ausgestaltet werden. Der Impuls zu echten Veränderungen käme immer von aussen, philosophiert Angst.
Der Generationenwechsel ist im Gange
In seinem Rücktrittsschreiben in der Wochenzeitung P.S. schreibt Angst, dass die Zeit reif für eine Neuorientierung sei. «Ich kann auch nicht verhehlen, dass ich immer etwas gefremdelt habe mit dem Parlament. Der Gemeinderat ist nicht meine soziale Welt.»
Dass Angst mit dem Rat gefremdelt haben soll, erstaunt Niklaus Scherr. «So habe ich ihn nie erlebt. Wädi konnte mit allen normal diskutieren und kooperieren.» Er habe seine institutionelle Funktion stets wahrgenommen und ging für die richtige Sache viele Kompromisse ein. Womit er wahrscheinlich fremdelte, dürfte das soziale Brimborium des Gemeinderats gewesen sein, gibt Scherr zu bedenken. «Muss man als Politiker an jede parlamentarische Hundsverlochete? Damit haben viele Mühe.»
Angst erzählt, dass es in der Politik ganz viele Rituale und Spiele gebe, die er nie gerne mitgemacht habe. Auf die Frage, wieso er trotzdem über zwei Jahrzehnte im Rat geblieben ist, denkt er kurz nach und sagt dann: «Ja, vielleicht war dies ein Fehler.» Über den Zeitpunkt seines Rücktritts lässt sich viel spekulieren. In den vergangenen Jahren wurde immer wieder Kritik laut, dass die AL zu einer Partei der alten Männer verkommen sei. Im heute deutlich jüngeren und weiblicheren Gemeinderat sieht die Fraktion etwas alt und männlich aus, hiess es vor einem Jahr auf Tsüri.ch.
2008 trat eine AL-Gemeinderätin demonstrativ aus dem Rat aus und warf Scherr und Angst öffentlich «Mackertum» vor. Die Kritik, dass die Partei immer wieder Nachwuchsprobleme habe, lässt Angst an sich abprallen: «Das Engagement ist zwar sehr spannend, verlangt aber viel Zeit von einem ab. Richtig ist, dass wir uns zu wenig Sorge getragen haben.» Der Generationenwechsel sei aber in vollem Gange. So würde jetzt mit Sophie Blaser eine junge Frau für ihn nachrutschen. Von den angefragten Jungpolitiker wollte sich niemand über Angsts Abgang äussern.
Im Zuge seines Rücktritts hat sich Angst in den Vorstand der AL wählen lassen. Auch sein Engagement für einen sich nicht an der Abschreckungsdoktrin orientierenden Umgang mit Geflüchteten gehe weiter, versichert er. Die Arbeit werde ihm so schnell nicht ausgehen.
Walter Angst merkt, dass seine Zeit gekommen ist. Er verabschiedet sich gewohnt kurzsilbig, schwingt sich aufs Velo und fährt in Richtung Schrebergärten davon.
Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei Tsüri.ch erschienen. Autor Yann Bartal ist Praktikant Redaktion beim Zürcher Stadtmagazin.