IntegrART 2023: Biennale für Inklusion erstmals unter neuer Leitung
Ungleiche Zwillinge, eine Tanzperformance, die sich von Ort zu Ort verändert, menschliche Prothesen und ein Blick in den Weltraum. IntegrART 2023 präsentiert vom 24. Mai bis 4. Juni vier Produktionen von und mit Künstlerinnen und Künstlern mit und ohne Behinderung.
Das Wichtigste in Kürze
- Mit dem Netzwerkprojekt fördert das Migros-Kulturprozent seit 2007 inklusive Bühnenkunst oder sogenannte Disability Arts.
Seit diesem Jahr hat IntegrART mit Inga Laas erstmals eine Selbstvertreterin an der Spitze – und setzt damit ein wichtiges Signal, wie die neue Leiterin im Gespräch mit Keystone-SDA sagt. «IntegrART geht damit den nächsten logischen Schritt auf dem Weg zur selbstverständlichen Einbinfung von Menschen mit Behinderung.»
Inga Laas hat eine starke Hörbehinderung und ist seit Jahren in unterschiedlichen Funktionen im Bereich der Inklusion tätig. Die Schweiz hinke hinterher, sagt sie. Es mangle an Dolmetscherpersonen, an Sensibilität und Verständnis. «Man ist nicht darauf eingestellt, dass Körper unterschiedlich sind und unterschiedlich funktionieren», so Laas. «Wir waren stattdessen jahrelang damit beschäftigt, alles zu normieren.»
Besonders stark komme die Problematik im Bereich der Performance-Kunst, auf den sie spezialisiert ist, auf der Stufe der Ausbildung zum Ausdruck. Es fehle der Zugang für Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung. «Inklusive Modelle bringen immer Aufwand mit sich, das ist klar.» Und sie seien ein Kostenfaktor. «Doch allem voran sind gleiche Voraussetzungen für alle ein Menschenrecht.»
Um diesen Tatsachen entgegenzuwirken hat IntegrART mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) das Modul «DisAbility on Stage» initiiert. Dieses war der Grundstein für einen CAS Diversity and Inclusive Practice in performing arts (DIPPA) an der Accademia Teatro Dimitri in Verscio.
2023 kollaboriert IntegrART erstmals mit Absolventinnen und Absolventen dieses CAS-Lehrgangs. «Caos Cosmico Quanta Basta» heisst die inklusive und barrierefreie Theaterproduktion, die sich künstlerisch mit dem Weltraum auseinandersetzt. Es ist neben drei internationalen Produktionen die einzige Schweizer Koproduktion im diesjährigen Programm. Das Stück feiert seine Premiere am 25. Mai am Orme Festival in Lugano.
In «Une tentative presque comme une autre», das in Lugano, Genf, Bern und Basel aufgeführt wird, thematisieren die belgischen Zwillingsbrüder Guillaume und Clément Papachristou die Verbundenheit im Anderssein. Guillaume wurde mit einer Zerebralparese geboren, Clément nicht. In ihrer Performance, einem «intimen Duett» wie es in den Presseunterlagen heisst, lassen sie das Publikum an ihren Lebensrealitäten teilhaben – «humorvoll, sensibel und ganz ohne Scham».
In «Bailes Extraños» (zu sehen in Bern, Basel und Lugano) interpretieren Rita Noutel, eine Tänzerin im Rollstuhl, und der Tänzer José Maldonado den Flamenco neu. An jedem Spielort trifft das Duo auf eine neue, ihnen unbekannte Schweizer Tänzerin. In einer Improvisation treten sie in den Dialog und erschaffen «mit Bewegung, Klang und Licht einen Ort zwischen Ordnung und Wahnsinn», heisst es weiter.
Mit «Forme(s) des vie» präsentieren der Franzose Éric Minh Cuong Castaing und seine Compagnie Shonen, ein Stück ganz ohne Sprache. Darin treffen ein ehemaliger Profi-Boxer und eine Tänzerin, beide mit eingeschränkter Mobilität, aufeinander und erinnern sich an ihre früheren Bewegungsgewohnheiten. Drei weitere Mitglieder der Compagnie gleichen als menschliche Prothesen die Mobilitätsverluste aus – alles im Kontext einer Zeit, in der sich der Mensch hauptsächlich an Tempo und Leistung orientiert. Das Stück wird in Bern und Genf zu sehen sein.
IntegrART vernetzt mit seiner Biennale für Inklusion alle zwei Jahre vier Partnerfestivals aus allen Landesteilen – das Wildwuchs Festival (Basel), das BewegGrund.Das Festival (Bern), Out of the Box (Genf) und Orme (Lugano). Dort werden die vier ausgewählten Produktionen in den nächsten Wochen zu sehen sein.
Und irgendwann, so hofft Inga Laas, werde sich Disabilty Arts als Kunstrichtung etabliert haben, die Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Behinderung alltäglich sein. Ihr Ziel als Leiterin von IntegrART sei denn auch ganz klar: «Wir wollen raus aus dem exklusiven Status inklusiver Festivals und Inklusion so in die Kulturbranche einbringen, dass sie nicht mehr als Label gebraucht, sondern als selbstverständlicher Teil mitgedacht wird».