Mit Kim de l'Horizons «Blutbuch» rückt queere Literatur ins Zentrum
Der Schweizer Buchpreis 2022 setzt vor allem gesellschaftspolitisch ein Zeichen: Mit Kim de l'Horizon gewinnt ihn – wenig überraschend – eine Person, die sich als non-binär definiert und die dies im Roman «Blutbuch» literarisch gekonnt bearbeitet. Aber auch die anderen Nominationen blicken inhaltlich vom Rand oder von unten auf die Gesellschaft – mit einer Ausnahme.
Das Wichtigste in Kürze
- Neben Kim de l'Horizon war mit Simon Fröhling ein homosexueller Autor nominiert, der mit seinem Roman «Dürrst» in die Schwulenszene eintaucht und damit ebenfalls eine sexuelle Minderheit in den Vordergrund stellt.
Beiden Romanen ist gemein, dass sie Sexualität teils drastisch, gewalttätig und als Spiegel sozialer Machtverhältnisse schildern. Gerade «queere Sexualitäten scheinen für viele Menschen noch immer mit Ekel verbunden sein», sagte Kim de l'Horizon in einem der vielen Interviews zu «Blutbuch». Und: «Ich wollte keinen Blümchen-Sex beschreiben, nur um diesem Ekelgefühl auszuweichen.»
Simon Fröhling erzählt in «Dürrst» von dem schmerzhaften Weg eines schwulen Künstlers mit einer bipolaren affektiven Störung. Der Roman ist gleichermassen queere Literatur, das Porträt einer psychischen Krankheit und ein Künstlerroman. Fröhling, in einem Interview zur Nominierung für den Schweizer Buchpreis danach gefragt, ob er dadurch eine Vorreiterrolle für queere Literatur einnehme, überlässt diese gerne Kim de l'Horizon.
«Blutbuch» heisst der Roman, der den Schweizer Buchpreis 2022 gewonnen hat und zuvor bereits mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Vor Kim de l'Horizon ist das in der Geschichte des Schweizer Buchpreises einzig 2010 Melinda Nadj Abonji gelungen. Bemerkenswert ist zudem, das «Blutbuch» Kim de l'Horizons Romanerstling ist.
Mit diesem Roman habe Kim de l'Horizon «erzählerisches Neuland» betreten, lässt sich die Jury in einer Mitteilung vom Sonntag zu ihrem Entscheid zitieren. Kim de l'Horizon habe eine non-binäre Erzählfigur geschaffen, die sich in die eigene Kindheit begebe und ihrer Familiengeschichte nachgehe. Kim de l'Horizon verwandle «Erfahrung in Literatur – eigene Erfahrung und die Erfahrung von Mutter, Grossmutter und der Frauen davor.» Kim de l'Horizon probiere dafür verschiedene Sprachen, Stimmen und Register aus – ohne eine Antwort zu geben.
Und Kim de l'Horizon selber sagt, dass die Schreibe an diesem Roman «ein langer und schwieriger Prozess gewesen»sei. Der Roman sei das «notwendige Produkt meines Schreibens, meiner Auseinandersetzung mit der Welt, dem Umgang mit meinen Erfahrungen». Dafür hat Kim de l'Horizon versucht, Formen des Schreibens zu finden, die nicht nur autobiografisch sind. «So kam die Mischform Autofiktion in 'Blutbuch' zustande.»
Parallelen zur Biografie des Autors finden sich im Übrigen auch in «Dürrst» und in «Der Rote Diamant» von Thomas Hürlimann, der ebenfalls für den Schweizer Buchpreis 2022 nominiert war. Er thematisiert in einer Internatsgeschichte den Zeitbruch der 1968-er.
In einer Publikumsumfrage von Schweizer Radio SRF, an der 1618 Personen teilgenommen haben, hätte übrigens eine knappe Mehrheit von 34 Prozent der Stimmenden ihm den Buchpreis verliehen – gegenüber 33 Prozent für «Blutbuch». Thomas Hürlimann, der mit seinen 71 Jahren als einer der Altmeister schweizerischer Literatur gilt, muss nun allerdings dem 30-jährigen Kim de l'Horizon den Vortritt lassen.
Nominiert waren darüber hinaus der Berner Autor Thomas Röthlisberger mit «Steine zählen», einer Geschichte eines alten Ehepaares im Süden Finnlands, die auf ihrem ärmlichen Hof Opfer überkommender Traditionen werden. Zudem gehörte Lioba Happel mit «Pommfritz aus der Hölle» zu den fünf Nominierten. Wie der Titel verspricht, ist der Roman der Höllentrip eines Mannes, der seine Mutter umgebracht hat, einen Teil der Leiche gegessen hat und darüber in Briefen an seinen abwesenden Vater schreibt.
Die Nominationen für den Schweizer Buchpreis 2022 zeigen unsere Gesellschaft von deren Rändern her; sie zeigen inhaltlich steinige Wege; die Geschichten verlangen den Lesenden einiges ab – mit der Ausnahme, des Romans «Der Rote Diamant» von Thomas Hürlimann.
Verantwortlich für die Auswahl war die fünfköpfige Jury, bestehend aus der Winterthurer Buchhändlerin Tanja Bhend, der freien Kritikerin Sieglinde Geisel, der Literaturredaktorin Annette König , der Kulturjournalistin Martina Läubli und der Kulturwissenschaftlerin Yeboaa Ofosu. Das Gremium hat 88 Titel geprüft, die seit Herbst 2021 in 58 Verlagen erschienen sind.
Träger des Schweizer Buchpreises sind der Verein Literatur Basel und der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband (SBVV). An der Verleihung am Sonntag beklagte Eva Herzog, Präsidentin von Literatur Basel, SP-Ständerätin und Bundesratskandidatin, dass die Kulturberichterstattung in den Medien immer mehr geschrumpft sei. «Bücher brauchen Öffentlichkeit», sagte sie. Dafür sei der Buchpreis nicht zuletzt auch da.
Der Schweizer Buchpreis wurde 2008 denn auch als Marketinginstrument ins Leben gerufen. Die Preisträgerin oder der Preisträger platziert sich meist – neu oder erneut – oben auf den Bestsellerlisten. Auch die Nominierten erleben in der Regel Verkaufsschübe. Der Schweizer Buchpreis berücksichtigt ausschliesslich deutschsprachige Schweizer Literatur.