Übersetzer Steven Wyss bringt C. F. Ramuz über den Röstigraben
Der Übersetzer Steven Wyss hat 2023 «Sturz in die Sonne» von C. F. Ramuz ins Deutsche übertragen.

Für die Übersetzung wurde er mehrfach ausgezeichnet. Jetzt erscheint Ramuz' Roman «Dorf im Himmel» erstmals auf Deutsch – wiederum übersetzt von Steven Wyss.
Der Lausanner Autor Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947) hat in den 1920er Jahren parallel an seinen beiden Romanen «Présence de la mort» (dt.: «Sturz in die Sonne») und «Terre du Ciel» (dt.: «Dorf im Himmel») gearbeitet. In allen seinen Romanen und Erzählungen beschrieb Ramuz immer wieder das ländliche Leben in der französischsprachigen Schweiz. Geschichten von einfachen Menschen, von Dorfgemeinschaften in der Waadt oder im Wallis, die mit existenziellen Herausforderungen konfrontiert sind: Naturkatastrophen, soziale Umbrüche oder persönliche Krisen.
Beim Lesen fällt schnell eine recht eigensinnige Sprache auf, mit vielen rhythmisierenden Wiederholungen oder einer «abgefahrenen Tempusverwendung», wie es sein deutschsprachiger Übersetzer Steven Wyss im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA formuliert.
Kaum jemand kennt Ramuz' Sprache besser als sein Übersetzer. Zum Teil erkennt er sich in Ramuz’ Nachdenken über Sprache wieder: «Wenn Ramuz in Paris ist und über sein eigenes Französisch im Gegensatz zum französischen Französisch nachdenkt, könnte auch ich in Berlin sein und mir ähnliche Gedanken machen. Das hat mich fasziniert, lange bevor ich zu träumen gewagt hätte, dass ich ihn mal übersetze.»
Ramuz wollte so schreiben, wie die Menschen in seiner Umgebung sprachen, und rang darum, Landschaften und Naturphänomene in Worte zu fassen. «Es ist mir wichtig, die Orte zu kennen, wo Ramuz war. Ich weiss, wie sich das anfühlt, wenn ein wilder Bach rauscht.» Und er habe auch im Berner Oberland viele Gletscher, Felswände und Steilhänge gesehen, lacht Steven Wyss. «Das sind menschliche Erfahrungen, die kein statistisches Sprachmodell erfassen kann.»
Neben solcher Recherche vor Ort hat Wyss viel von und über Ramuz gelesen – wenn auch noch lange nicht alles: Ramuz habe unglaublich viel publiziert, auch aus finanzieller Notwendigkeit. Im Nachwort beschreibt Wyss, wie der Autor die eigenen Texte weiterverarbeitete und im Laufe der Jahre wieder verwendete.
Manchmal braucht es kreative Lösungen
Von «Terre du Ciel» gibt es vier Fassungen. Er könne Ramuz zwar nichts mehr fragen, aber beim Vergleich der Fassungen konnte der Übersetzer den Autor quasi dabei beobachten, wie dieser seine Texte entwickelt hatte. Über 30 Jahre war Ramuz mit der Arbeit an diesem Text beschäftigt. Grundlage für die Übersetzung, die nun unter dem Titel «Dorf im Himmel» erscheint, war Ramuz’ letzte Fassung von 1941.
Im Originaltext streiche Wyss jeweils viel an und schlage auch viel nach. Die Vorstellung, dass er als Übersetzer einfach jedes Wort kenne, sei falsch. Gerade beim literarischen Übersetzen ist jede Bedeutungsnuance wichtig. Dafür benütze er französischsprachige oder auch deutsch-französische Wörterbücher oder den Duden und andere deutschsprachige Wörterbücher. Satz für Satz, beziehungsweise Wort für Wort holt Wyss all diese Bedeutungsebenen, Sprachrhythmen und Nuancen ins Deutsche.
Schon der erste Satz illustriere zahlreiche Fragen und Probleme: «Alors ceux qui furent appelés se mirent debout hors du tombeau.» Angefangen bei «Alors», was «also», «und da» oder «dann» sein könnte; zur ersten Roh-Übersetzung: «Da erhoben sich die, die gerufen wurden, aus ihren Gräbern.» Wyss überprüft sich immer wieder selbst, auch in dem er sich den Text laut vorliest: «In diesem Fall war ‘erhoben’ viel zu gehoben. Das sind meine eigenen Schreibautomatismen, man verbessert sich ja auch ständig selbst. Aber bei diesem Satz war einiges schräg und es musste absichtlich umständlich bleiben.» In der gedruckten Version heisst es nun: «Da standen diejenigen, die gerufen wurden, aus ihren Gräbern auf.» Und so geht es Satz für Satz.
Manchmal brauche es kreative Lösungen: Wenn die Figur Phémie die Tütchen mit Blumensamen anschreibt, sind da im Original typisch französische Schreibfehler. Mehr braucht Ramuz nicht, um zu erzählen, dass sie ungebildet ist. Wyss übersetzt diese Fehler mit, indem er typische deutschsprachige Fehler einbaut: «Someraster, Riengelblumen, Nelcken». Künstliche Intelligenz würde diese Fehler automatisiert korrigieren, womit bei der Figur Phémie etwas verloren geht. «Auch wenn KI bei bestimmten Textsorten gut funktioniert, beim literarischen Übersetzen ist sie keine Hilfe.»
Über solch kreative Lösungen freut sich Wyss auch, wenn er selbst Übersetzungen lese, «wenn ich darüber nachdenke, was ein Wortspiel, eine Redewendung wohl war im Original.» Man merkt schnell, dass das literarische Übersetzen viel mehr mit der Gestaltung des Deutschen zu tun hat als mit dem Beherrschen einer Fremdsprache. «Der Ausgangstext ist extrem wichtig. Aber es geht vor allem darum, die Sprache des Autors im Deutschen nachzubilden – also nicht nur darum was, sondern vor allem wie erzählt wird.» Die Sprache von Ramuz scheint Wyss zu gefallen. Und: Dank ihm liegt «Dorf im Himmel» nun erstmals in all seinen Nuancen und Sprachrhythmen auf Deutsch vor.*
*Dieser Text von Philine Erni, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.