«Spoiler-Panik beruht auf Missverständnis»
Ist das Spoilern wirklich so schlimm? Nachgefragt beim Filmwissenschaftler Simon Spiegel, der in Zürich #spoiltheconference (17.-19.3.), die erste interdisziplinäre Tagung zu diesem Thema, veranstaltet.
Das Wichtigste in Kürze
- James Bond stirbt in «No Time to Die».
Bruce Willis lebt in «The Sixth Sense» gar nicht, sondern ist die ganze Zeit ein Toter. Norman Bates leidet in «Psycho» unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Bei solchen Sätzen rauscht es in den Ohren von so manchem Kinofan. Denn: Entscheidende Wendungen jemandem zu erzählen, der den Film noch nicht gesehen hat, gilt als Sakrileg.
«Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass sich jemand seines Filmgenusses beraubt fühlt, wenn im Vorfeld ausgeplaudert wird, wie die Sache ausgeht.» Das sagt Simon Spiegel, Filmwissenschaftler an der Universität Zürich. Gemeinsam mit Christine Lötscher, in Zürich Professorin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft, und ihrer Mitarbeiterin Natalie Borsy, ist er der Organisator von #spoiltheconference, der ersten wissenschaftlichen Tagung, die sich interdisziplinär damit befasst, wie das ist mit dem Spoilern.
Spiegel sagt aber auch: «Die grassierende Spoiler-Panik beruht meiner Meinung nach auf einem fundamentalen Missverständnis. Eine Inhaltsangabe ersetzt nicht das Filmerlebnis, und ob mir ein Werk gefällt, hängt nicht nur - und wahrscheinlich nicht einmal primär - von der Handlung ab, sondern von vielen anderen Faktoren.» Ästhetische Aspekte wie Musik, Farben, Sound, Rhythmus oder Schnitt seien mindestens so wichtig. Ebenso die Leistung der Schauspielerinnen und Schauspieler.
Spoilern wird seiner Meinung nach hochstilisiert zu etwas, das es nicht ist. «Bevor der neue James-Bond-Film angelaufen ist, habe ich Kritiker gehört, die sich weigerten, auch nur einen Satz zur Handlung zu sagen. Was soll das? Wir alle wissen doch, was bei einem Bond-Film geschieht. Das kann ich gar nicht spoilern.» Die Panik hat für ihn denn auch viel mit cleverem Marketing zu tun. Obwohl es natürlich Filme gebe, die in elementarer Weise auf einem Twist beruhen würden.
Seltsamerweise sei die Spoiler-Aufregung oft bei jenen Werken am ausgeprägtesten, bei denen sie wenig Sinn mache: Star Wars, Harry Potter oder eben James Bond. «Seien wir ehrlich», so Spiegel: «Dort ist die Handlung doch meist völlig absehbar.» Spoiler sind zudem eindeutig ein Phänomen des Populärkinos. «Es käme niemandem in den Sinn, sich beim neuen Film von Jim Jarmusch oder Aki Kaurismäki über Spoiler aufzuregen», so Spiegel weiter.
Das Phänomen an sich gibt es schon lange. Bereits im letzten Jahrhundert sind in der Literaturkritik Twists verraten worden. Richtig Fahrt aufgenommen hat das Spoilern aber erst mit dem Aufkommen der Sozialen Medien. «Die Gründe sind klar», erklärt Spiegel. «Via Twitter oder Facebook erreiche ich in kurzer Zeit sehr viele Menschen. Und während ich eine Kritik in einer Tageszeitung einfach überblättern kann, ist das bei einem Tweet kaum möglich.»
Ausserdem gebe es heute schlicht viel mehr zu spoilern, so Spiegel. «Das Angebot an Filmen und Serien ist in den letzten 30 Jahren geradezu explodiert.» Zudem seien die Erzählstrukturen deutlich komplexer geworden. Und: Durch die Streamingdienste können Serien in einem Rutsch geschaut werden. Damit sind nicht mehr alle ständig auf dem gleichen Stand.
Simon Spiegel ist schon lange fasziniert vom Thema und hat in der Vergangenheit mehrfach dazu publiziert. Kurz trug er sich mit dem Gedanken, ein Buch darüber zu schreiben. «Doch bald wurde mir klar», so Spiegel, «dass ich dieses Phänomen umfassend angehen will». So entstand die Idee einer fächerübergreifenden Tagung. An #spoiltheconference werden Forschende aus den Game und Fan Studies ebenso vertreten sein wie solche aus der Film- und Literaturwissenschaft oder der empirischen Psychologie.
Bemerkenswert ist, wie omnipräsent die Angst vor Spoilern heute ist. Kaum noch eine Rezension kommt ohne Spoiler-Warnung aus, in den Sozialen Medien ist das Ausplaudern von Wendungen und Schlüssen ein vieldiskutiertes und emotionales Thema. Gleichzeitig gibt es dazu aber kaum Forschung. Spiegel erklärt diese Diskrepanz damit, dass das Spoilern zahlreiche Gebiete betreffe und sich daher bislang niemand wirklich zuständig gefühlt habe.
Spoilern ist schlechter Stil, Spoilern verdirbt anderen den Genuss, Spoilern gehört verboten. Doch so einfach ist es nicht: Ergebnisse aus der empirischen Psychologie haben gezeigt, dass je nach Persönlichkeitstyp der Filmgenuss sogar erhöht wird, wenn vieles von der Handlung bereits im Voraus bekannt ist. Eine mögliche Erklärung ist, weil dann mehr kognitive Kapazität frei ist, um auf andere Elemente als die Handlung zu achten.
Wie ist es bei den Fans? «Manche möchten die Filme so jungfräulich wie möglich sehen, andere analysieren Trailer und Setfotos stundenlang, um möglichst vorbereitet zu sein», so Spiegel.
Bleibt die Frage nach den finanziellen Auswirkungen: Ob gespoilerte Filme weniger Eintritte generieren, weiss Spiegel nicht. Das sei bislang gänzlich unerforscht.
Simon Spiegel stört sich übrigens nicht daran, wenn er selber im Vorfeld von einer dramatischen Wendung erfährt. «Für mich ist es viel entscheidender, dass ich emotional mitgenommen werde. Und das hängt bei mir wie erwähnt kaum je ausschliesslich von der Handlung ab.» So könne er zum Beispiel zum gefühlt 100. Mal mit grösstem Genuss «Psycho» schauen.
*Dieser Text von Raphael Amstutz, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.