Christian Krachts Roman «Air» entführt in die Falten der Zeit

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Bern,

Der Schriftsteller Christian Kracht ist dieses Jahr mit seinem Roman «Air» erneut für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Christian Kracht
Christian Kracht ist mit «Air» erneut für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. (Archivbild) - keystone

Christian Kracht ist mit «Air» dieses Jahr abermals für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Der Roman setzt so konsequent wie verspielt die Gesetze unserer Realität ausser Kraft.

Christian Kracht ist in jüngster Zeit regelmässiger Gast auf den Shortlists von Buchpreisen. 2021 widerfuhr ihm die Ehre für den Deutschen wie für den Schweizer Buchpreis. Daraufhin zog er sich von der Auszeichnung in der Schweiz zurück. Seine ungewöhnlichen Romane kommen bei Jurys gut an. Das gilt offenkundig auch für sein neuestes Werk mit dem Titel «Air».

Der Roman, so verspricht die Kurzbeschreibung, katapultiert einen Schweizer Innendekorateur, der zurückgezogen auf den Orkney Inseln lebt, aus der Zeit und aus seiner Welt. Es liegt etwas in der Luft, das schwer fassbar ist.

«Air» ist die Geschichte von Paul, der sich erfolgreich mit Aufträgen für Raumgestaltung durchs Leben bringt. Sein guter Ruf trägt ihm die Anfrage einer Design-Zeitschrift ein. Er soll im norwegischen Stavanger eine riesige Kaverne, in der ein gigantisches Data Center eingerichtet ist, mit einem «perfekten Weiss» ausmalen.

Christian Kracht vereint in «Air» parallele Erzählstränge

Der Roman erzählt auch von einem Fremden, der in einer frühzeitlichen Szenerie von einem Mädchen bei der Jagd angeschossen und danach gesund gepflegt wird. Christian Kracht führt die beiden Erzählstränge parallel im Wechsel der Kapitel, bis er sie in der Buchmitte zusammenführt und so sein Faible für das real Undenkbare, also nur das literarisch Mögliche offenbart.

Zwei Stichworte signalisieren die Zäsur. Im Moment, als Paul das Data Center inspiziert, verursachen solare Turbulenzen auf der Erde einen elektromagnetischen Sturm und legen das Data Center lahm. Danach ist Paul spurlos verschwunden. Und im frühzeitlichen Wald erklärt der Fremde seiner klugen Begleiterin, dass es sich beim rätselhaften Gegenstand in seiner Tasche um eine Keramikpistole aus dem 3D-Drucker handelt.

Unvermittelt zerfällt in «Air» die Kontinuität von Zeit, Raum und Handlung. Der elektromagnetische Sturm hebelt die Physik aus. Paul landet als Fremder in einer Frühzeit, in der er vor einem üblen Tyrannen fliehen muss und in eine sonderbar unwirtliche Gegend gelangt, in der alles Stein ist. Hier begegnet er, Zufall oder nicht, seinem Auftraggeber Cohen wieder. Dieser ist mit traumwandlerischer Bestimmtheit in sein Boot gestiegen und übers Eismeer zum Steinreich gerudert.

«Air» faltet die Zeit zusammen, verkrümmt den Raum und versetzt seine Handlung so ins Irreale – aus der Perspektive der Leser und Leserinnen. Was vernünftig erzählt wirkt, ist von Christian Kracht nach allen Regeln der Kunst dekonstruiert.

Christian Kracht: Mehr als das Etikett eines Schriftstellers seiner Generation

Seit den Romanen «Faserland» (1995) und «1979» (2001) haftet dem 1966 geborenen Kracht das Etikett eines Schriftstellers seiner Generation und deren Sinnkrisen an. «Eurotrash» (2021) hat diese Zuschreibung bekräftigt. Doch das Etikett greift zu kurz, auch wenn Kracht das Geheimnis um seine Person sorgsam pflegt.

Seine Romane überraschen immer wieder mit ebenso verwirrenden wie verworrenen Handlungen. Sie inszenieren befremdliche Geschichten mit schrägen Effekten. Der Roman «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» (2008) verwandelt die Schweizer Alpen in ein leninistisches Réduit. «Imperium» (2012) erzählt die imperiale Wahnidee eines deutschen Gurus in der Südsee. Die Erzählung in «Air» nun verstösst gegen alle menschliche Welterfahrung. Ist die Zeit eine Linie und die Welt ein Raum, oder bilden sie bloss plane Ebenen?

Allerdings, und das ist die Kehrseite, erzählt Kracht stets mit schöner Anschaulichkeit, wie die Welt bei ihm in Erscheinung tritt, ob auf den Orkney-Inseln, im Wald des Tyrannen oder im Steinreich der Steinmenschen. Mit narrativem Pokerface und lächelnder Ironie verleiht er seinen Geschichten einen überzeugenden Realismus.

So lesen sich seine Bücher durchaus vergnüglich und mit der Frage nach neuerlichen Sonderbarkeiten, die der Autor bereithält. Weil es ungewöhnlich, ja zweifelhaft zugeht, lässt Kracht seine Leserinnen und Leser an der Entfaltung seiner Geschichten teilhaben und sie gedanklich daran mitbauen. Hier, wo alle Gesetze aufgehoben scheinen, beginnt die literarische Imagination. Eine Antwort darauf, ob diese traumhaft inszeniert oder nur strapaziös konstruiert ist, muss jede und jeder bei der Lektüre für sich selbst herausfinden.*

*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

Kommentare

User #6342 (nicht angemeldet)

Was für "Falten"?????

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