Vor 50 Jahren nimmt die musikalische Sozialisierung der späten Babyboomer-Generation ihren Anfang, Songs sind für junge Leute mehr als nur eine Geschmackssache. Ernst Hofacker hat ein illustres Buch über die 1970er Jahre geschrieben.
Cover des Buches "Die 70er – Der Sound eines Jahrzehnts" von Ernst Hofacker. Foto: -/Reclam Verlag/dpa
Cover des Buches "Die 70er – Der Sound eines Jahrzehnts" von Ernst Hofacker. Foto: -/Reclam Verlag/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Chrissie Hynde ist 1970 dabei.
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Die spätere Frontfrau der Pretenders erlebt mit, wie Nationalgardisten auf einem Uni-Campus im US-Bundesstaat Ohio unbewaffnete Demonstranten gegen den Vietnamkrieg erschiessen. Die Musikerin hat den Tag nie vergessen, wie sie in ihrer Autobiografie berichtet.

Die Bluttat erschüttert Amerikas Jugend und veranlasst die angesagte Supergroup Crosby, Stills, Nash & Young, die gerade ihr erstes gemeinsames Album veröffentlicht («Déja vu»), sofort wieder ins Studio zu gehen und eine Single aufzunehmen. In ihrem Klagelied auf das Massaker an der Kent State University singen sie in ihrem typischen Satzgesang von Zinnsoldaten, Richard Nixon und vier Toten in Ohio. Es ist klar, auf welcher Seite sie stehen.

Nicht immer beziehen sich Songtexte so eindeutig auf konkrete Ereignisse oder Umbrüche, doch immer spiegeln sie Stimmungen oder Befindlichkeiten wider, wie der Münsteraner Musikjournalist Ernst Hofacker (Jahrgang 1957) herausstellt. Er hat eine äusserst erhellende Kulturgeschichte über eine Ära geschrieben, in der Rock und Pop in all ihren Spielarten mehr Statement sein wollen als schnelle Hit-Erfolge. Damals gilt allenthalben: Sag mir, was du hörst, und ich sag dir, wer du bist.

Schlicht «Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts» hat der Autor sein Werk genannt. Er legt den Fokus seiner Betrachtungen auf die Musik als Ausdrucksmittel einer jugendlichen Gegenkultur und zieht konkrete Daten heran, um in die Kapitel einzusteigen. Die weltpolitische Relevanz ist dabei nicht entscheidend.

Der 10. Oktober 1973 etwa ist so ein «unwichtiges» Datum: Die Düsseldorfer Elektropop-Band Kraftwerk ist ins ZDF-Kulturmagazin «Aspekte» eingeladen. Den Tag muss man sicher nicht als abfragbares Geschichtswissen drauf haben, doch er macht die Bedeutung dieses Fernsehauftritts klar: Die Band kommt gerade in der Hochkultur an, die (musikalische) Welt hat sich schon wieder ein bisschen verändert.

Ernst Hofacker weiss aus Erfahrung, wie sich Zeitgeschichte spannend erzählen lässt: mit Geschichten, grossen und kleinen. Was ihm 2016 mit seinem Kaleidoskop «1967 - Als Pop unsere Welt für immer veränderte» über die Hippies gelungen ist, wiederholt er nun mit der Chronik eines ganzen Jahrzehnts: eine über 300 Seiten lange, sehr gründlich recherchierte Bestandsaufnahme, die dennoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Der Autor behält dabei stets den Blick auf das grosse Ganze, gewichtet, verdichtet, ordnet ein und zieht die Leser - sprachlich erfrischend leichtfüssig, doch in der Sache stets auf Seriosität bedacht und mit Quellen belegt - durch die Jahre. Randnotizen wie jene über die Nacht der Kraftwerk-Musiker in West-Berlin, die diese in einem Club verbringen, weil das gebuchte Hotel die jungen Gäste zu späterer Stunde nicht mehr ins Haus lässt, sind da bei der Fülle der Informationen willkommene kleine Inseln für kurze gedankliche Verschnaufpausen.

Von Prog bis Punk, von Abba bis Zappa: Hofacker schaut sowohl vor die Kulissen als auch dahinter. Er verzichtet auf jegliche Art der Heldenverehrung, stellt vielmehr den vielen, vielen Protagonisten (Frauen sind nur wenige darunter) im vom angloamerikanischen und eindeutig männlich dominierten Musikzirkus jener Zeit in den Mittelpunkt. Zudem gibt er allgemein weniger bekannten, gleichwohl gewichtigen Strippenziehern hinter den Acts Raum, was auch für die Musikszenen in der Bundesrepublik und der DDR gilt. Ein zwölf Seiten umfassendes Namensregister am Ende verdeutlicht, mit wie viel Akribie sich der Autor an sein Werk gemacht hat.

Man merkt von Anfang an, dass Hofacker für sein Thema brennt. Das grafische Cover seiner analytischen Betrachtungen ist zwar auffällig, wirkt jedoch etwas beliebig, der Titel recht trocken. Umso pointierter die Headlines im Buch: Sie machen neugierig auf das, was kommt: «Pinkelpause in Ulster Hall» (1971) ist so eine Überschrift: Led Zeppelin spielen erstmals eine Ballade vor Publikum, die eine der berühmtesten des 20. Jahrhunderts werden soll. Eine andere lautet «Ein Schimmel im Freudenhaus» (1977): Auf den folgenden Seiten wird nicht zuletzt die Frage beantwortet, wie ein Pferd Einzug hält in den damals ganz neuen New Yorker Hedonisten-Tanztempel Studio 54 - und wer das Tier reitet. Disco-Beats geben dabei den Ton an.

Die 70er Jahre, die Ernst Hofacker als Heranwachsender selbst miterlebt hat (wenn auch nur in der westdeutschen Provinz), sind alles andere als homogen. Das wird schnell klar. Doch ihre Strahlkraft, so meint er, haben die Songs bis heute behalten. Wie sonst liesse sich erklären, dass die Deutsche Bahn 2018 ausgerechnet den damals schon über 70-jährigen Iggy Pop («The Passenger») mit nacktem Oberkörper für ein Testimonial verpflichtet, mit dem das Unternehmen sich von seinem altbackenen Image befreien möchte, wie der Autor anführt. Die Musikanten der Seventies sind alles andere als Schnee von gestern, folgert er daraus.

Ernst Hofacker: Die 70er - Der Sound eines Jahrzehnts, Reclam Verlag, 359 Seiten, 28 Euro, ISBN: 978-3-150112441

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