Freundschaften am Rande der Gesellschaft

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Eine tote Prostituierte, Solidarität und Freundschaft unter Aussenseitern, ein Plädoyer für Toleranz. Elif Shafaks Roman «Unerhörte Stimmen» handelt von einem Mord und ist doch voller Leben.

Elif Shafak
Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak hat ein Plädoyer für Toleranz und Freundschaft geschrieben. Foto: Frank Rumpenhorst - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Geschichte von «Tequila Leila» ist tragisch, doch Elif Shafak verzichtet in ihrem Roman «Unerhörte Stimmen» auf leidenschaftliche Dramatik.

Dabei hätten andere Autoren womöglich nicht auf eine geballte Menge Herz-Schmerz-Tränen verzichtet angesichts eines solchen Schicksals: Missbrauchsopfer flieht aus der Provinz nach Istanbul, wird ins Bordell verkauft und sein Leben endet als Mordopfer in einer Mülltonne.

Das schreckliche Ende wird gleich am Anfang vorweggenommen, und durch die Perspektive der toten Leila lernt der Leser die Frau kennen, die nun auf Entdeckung ihrer Leiche wartet, während ihr Gehirn auf Hochtouren läuft mit einem Kaleidoskop von Erinnerungen. Leila ist tot, und doch präsentiert sie sich als überaus lebendig in einem wirbelnden Gedankenstrom. Jedes Kapitel im ersten Teil von «Unerhörte Stimmen» ist einer Minute gewidmet, einer von jenen 10 Minuten und 38 Sekunden, die das Gehirn einer Studie zufolge nach Eintritt des Todes noch arbeitet.

Für ihre Familie ist Leila, die mit 17 Jahren aus einer ostanatolischen Kleinstadt nach Istanbul geflohen ist, schon viel länger gestorben. Schande habe sie über sie gebracht, hiess es. Dabei war es der Onkel, der das kleine Mädchen missbraucht hatte und ihr einredete, sie habe ihn verführt. Als sie ausgerechnet seinen Sohn heiraten soll, läuft Leila davon. Doch in Istanbul zerplatzen die optimistischen Träume der jungen Frau von einem glamourösen Leben schnell. Sie wird ins Bordell verkauft, erlebt brutale Freier, Dreck, Gleichgültigkeit und Verachtung.

Doch Leila erweist sich als Kämpferin. Auch in der Strasse der Bordelle findet sie Freunde - die Transfrau Nalan, die afrikanische Prostituierte Jamila, die zwergwüchsige Zaynab, die Nachtklubsängerin Humeyra, die vor einem prügelnden Ehemann nach Istanbul geflohen ist, und den Kindheitsfreund Sinan, der Leila nach Istanbul gefolgt ist.

Es sind diese Freunde, auf die die tote Leila baut, denn ihre grosse Liebe, ist bei einer Demonstration von der Polizei erschossen worden. Doch die fünf, die Leila durch Höhen und Tiefen des Lebens in der Strasse der Bordelle begleitet haben, halten ihr über den Tod hinaus die Treue, während die Behörden den Mord an der Prostituierten nur halbherzig verfolgen. Dass sie auf dem «Friedhof der Geächteten» ein anonymes Grab findet, wollen sie nicht akzeptieren. Ihr letzter Freundschaftsdienst ist ein Befreiungsschlag für die Seele einer Frau, die sich nicht als Opfer sehen wollte.

Mit «Unerhörte Stimmen» hat Elif Shafak ein liebevolles Porträt gesellschaftlicher Aussenseiter gezeichnet. Das Schicksal der ermordeten Prostituierten Leila zur Parabel einer kaputten und heuchlerischen Gesellschaft und ihres Umgangs mit denjenigen, die aufgrund ihrer Sexualität, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer «Moral» und unerhört gelten und deren Stimmen von den meisten ungehört überhört werden.

«Vieles in diesem Buch ist wahr und alles ist erfunden», schreibt die in London lebende Shafak in ihrer Anmerkung am Ende dieses zutiefst menschlichen, unsentimentalen Romans. «Unerhörte Stimmen» spielt nicht in der türkischen Gegenwart, doch die Kluft zwischen Tradition und Moderne, zwischen Religiosität und säkularer Gesellschaft sind zeitlos. Shafak bezieht klare Position für die Ausgestossenen und Aussenseiter, die nur in der Halbwelt einen Platz finden. Ihr Buch ist auch ein Plädoyer für Toleranz und ein Loblied auf Freundschaft - kraftvoll und trotz des Todes lebensstrotzend.

- Elif Shafak: Unerhörte Stimmen, Kein & Aber, Zürich/Berlin, 430 Seiten, ISBN 978-3-0369-5790-6.

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