Jederfrau statt Jedermann - Milo Raus Stück in Salzburg
Zum 100. Jubiläum des Salzburger «Jedermanns» präsentieren die Festspiele einen Gegenentwurf. Doch auch Milo Raus «Everywoman» gibt keine befriedigenden Antworten auf den «Skandal der Sterblichkeit».
Das Wichtigste in Kürze
- Paradoxerweise war es nicht das Schicksal einer unheilbar Krebskranken, das an diesem Salzburger Theaterabend vielleicht am meisten berührte, sondern das eines Pferdes.
In Milo Raus neuem Dokutheaterstück «Everywoman», das am Mittwochabend in der Szene Salzburg, einem Off-Theater abseits des Festspielbezirks, uraufgeführt wurde, erzählt die Schauspielerin Ursina Lardi von einem Rennbahnerlebnis, als eines der Pferde vor ihren Augen in vollem Galopp stürzt und sich ein Bein bricht. Immer wieder versucht das tödlich verletzte Tier aufzustehen - vergeblich. Lardi schildert dies so eindringlich, dass man meint, ein Raunen im Publikum zu vernehmen.
Doch eigentlich steht ein Mensch im Mittelpunkt der eineinhalbstündigen pausenlosen Aufführung: Helga Bedau, eine unheilbar an Krebs erkrankte «Jederfrau», die sich dazu bereit erklärt hat, in dem Stück über ihr wenig spektakuläres Leben und ihren nahen Tod zu sprechen. Die Berlinerin ist während der Aufführung nur auf einer Videoleinwand zu sehen, nimmt aber zum Schluss persönlich die Ovationen entgegen. Im Stück sagt sie, sie wisse nicht mehr, ob sie die Premiere erleben werde. Doch das Schicksal war ihr gnädig, noch einmal.
Die auch aus «Tatort»-Krimis und anderen Filmen bekannte Schweizer Schauspielerin Ursina Lardi ist Helga Bedaus (reale) Bühnenpartnerin. Sie kommuniziert, zuweilen etwas holprig, mit der Leinwandfigur, berichtet aber auch aus ihrem eigenen Leben und reflektiert in einem grossen Monolog über das Sterben und den Tod. Eingewoben in den Ablauf sind Zitate sowie die Bankettszene des Festspieldauerbrenners «Jedermann», bei der erstmals der Tod in das Leben des «reichen Mannes» tritt. Auf «Jedermanns» Platz sitzt Helga Bedau und hört allein die das Nahen des Todes verkündenden Glocken. Sie tönen aus einem Kassettenrekorder.
Der Titel «Everywoman» hätte nahegelegt, dass es sich bei dieser Uraufführung um ein feministisches Statement handelte. Doch darum geht es Rau nicht. Ihm geht es um den Tod und jene «gewaltige Einsamkeit» im Moment des Dahinscheidens. «Warum diese extreme Prüfung - allein? Was könnte eine künstlerische Antwort sein auf den Skandal unser aller Sterblichkeit?» So wird im Programmheft gefragt.
Um es kurz zu sagen: Auch Rau findet keine Antwort. Sie bleibt ähnlich vage und unbefriedigend wie in der aktuellen Domplatz-Version von Hugo von Hofmannsthals Original-«Jedermann», dessen Hauptdarsteller Tobias Moretti im «Everywoman»-Publikum sass.
Um der Einsamkeit des Todes zu entrinnen, gibt es eigentlich nur eine Antwort: den Glauben an Gott und die Auferstehung, der schon bei Hofmannsthal nicht viel mehr ist als Erinnerung. Doch seit Gott die Welt und die Menschen endgültig verlassen zu haben scheint, seit sich die Kirchen weniger um das Seelenheil ihrer Schäfchen kümmern als um die Bewältigung weltlicher Skandale, müssen die Schäfchen den Sinn des Todes im Diesseits suchen: Ein Ding der Unmöglichkeit, wie Lardis ebenso engagierter wie hilfloser Monolog über ein alle Zeiten und Menschen verbindendes «Om»-Mantra offenbart, in dem sich Lebende wie Sterbende aufgehoben fühlen sollen.
Dass dieser ambitionierte Theaterabend - mit Ausnahme der Schilderung des gestrauchelten Pferdes - kein wirkliches Mitfühlen ermöglicht, mag am Distanz evozierenden, halbvirtuellen liegen. Vielleicht aber war das Gefühl der Leere, das selbst am Schluss nicht weichen wollte, als Lardi auf einem Konzertflügel Bach spielt, auch Absicht des Regisseurs. Dem 43-jährigen Schweizer liegt erklärtermassen an einer reinigenden, mitunter tröstenden Theater-Katharsis nichts.