Coronavirus: Kritik am Öffnungs-Kurs ist verstummt
Der Bundesrat öffnet die Schweiz fast komplett. Noch vor wenigen Wochen hätten primär Linke mit einem Aufschrei reagiert. Nun bleibt er aus. Woran liegt das?
Das Wichtigste in Kürze
- Die Reaktionen auf die rasche Lockerung der Corona-Massnahmen fallen zurückhaltend aus.
- Kritik ist keine zu hören – die Grünen wissen selbst nicht wirklich, was sie davon halten.
- Das liegt einerseits an den tiefen Zahlen – und wohl auch an unsicheren Prognosen.
Bereits ab kommendem Samstag kehrt das Leben endgültig in die Schweiz zurück. In Restaurants gibt es praktisch keine Einschränkungen mehr, die Maskenpflicht wird vielerorts aufgehoben und selbst Clubs dürfen ihre Türe wieder öffnen.
Zum wiederholten Mal geht der Bundesrat bei Öffnungsschritten damit deutlich weiter als kurz zuvor angekündigt. Das begründet die Landesregierung mit den stark sinkenden Zahlen des Coronavirus, dem Impffortschritt und dem Willen der Kantone.
Dennoch: Gesundheitsminister Alain Berset spricht von einem «Risiko» – gerade in Anbetracht der neuen Delta-Variante. Kritik erntet er für den Öffnungs-Kurs dafür allerdings nicht.
Das erstaunt, denn bis vor wenigen Wochen pochte die Linke auf vorsichtige Lockerungen. Und die SVP polterte, dass alle Einschränkungen fallen müssten. Was wiederum SP und Grüne stets heftig kritisierte.
SP-Meyer und Grünen-Glättli üben keine Kritik
Nun herrscht bei den Parteien nach dem wohl wichtigsten Bundesrats-Entscheid seit Monaten Schulterzucken. Die SP sagte bisher gar nichts zu den gelockerten Massnahmen. Auf Anfrage von Nau.ch weicht Co-Präsidentin Mattea Meyer denn auch aus.
«Es ist erfreulich, dass sich die epidemiologische Lage stabilisiert und sogar verbessert», erklärt sie. Das stimme zuversichtlich und sei dem Impffortschritt und den Menschen zu verdanken, die sich an die Massnahmen hielten.
Meyer: «Wissenschaftlich abgestützte Öffnungsschritte sind auch künftig davon abhängig zu machen, ob die Fallzahlen weiterhin sinken und die Impfkampagne voranschreitet.» Damit sagt sie implizit, dass die jüngsten Öffnungen eben so abgestützt seien.
Zwar bleibe «Vorsicht geboten, um das Erreichte nicht zu verspielen», erklärt sie mit Verweis auf die Delta-Variante des Coronavirus. Doch Kritik an den Turbo-Lockerungen äussert sie nicht.
Bei Grünen-Präsident Balthasar Glättli tönt es ähnlich. War der Corona-Öffnungsentscheid des Bundesrats angemessen oder wegen der Delta-Variante zu rasch? «Time will tell» (dt. «Die Zeit wird es zeigen»), meint er auf seine eigene Frage bloss.
Coronavirus: Zurückhaltende Politik wegen Fehlprognosen?
Dass die Vorsichtigen die jüngsten Lockerungen nicht kritisieren, dürfte auch mit der massiven Fehlprognose der wissenschaftlichen Taskforce zusammenhängen. Ende April sagte deren Modell für Ende Juni Tausende Fälle des Coronavirus pro Tag voraus, mittlerweile sind es noch knapp über 100.
Umgekehrt unterschätzte der Bundesrat die zweite Welle komplett. Wohl auch deshalb will sich niemand mehr die Finger verbrennen mit Massnahmen-Kritik. Auf der Gegenseite hat auch die SVP nicht aktiv zu den neusten Lockerungen kommuniziert.
Noch mehr Öffnungen zu fordern ist nämlich ebenfalls riskant, falls die Zahlen im Herbst wieder steigen. So oder so hält sich auch die Taskforce seit dem Prognose-Debakel im Frühling zurück mit weiteren Prognosen.
Der Schweiz steht also wohl nicht nur ein corona-technisch ruhiger Sommer bevor. Auch politisch dürfte sich das Getöse der letzten Monate legen.