Coronavirus: Skeptiker haben online Hochkonjunktur
Die Corona-Pandemie öffnet Tür und Tor für wilde Theorien, Zweifel an den Behörden und berechtigte Fragen. Wir haben Antworten.
Das Wichtigste in Kürze
- Zahlen und Fakten zum Coronavirus werden nicht immer in korrekte Zusammenhänge gestellt.
- Entsprechend haben Zweifel an Behörden und Verschwörungstheorien grossen Zulauf.
- Ein Faktencheck zu einem Youtuber, der Tausende von Klicks erhält.
Fragen kann man ja: Wenn Desinfektionsmittel den Virus auf den Händen unschädlich macht, warum dann nicht im Körper drin? Es sind solche, für Fachleute «blöde» Fragen, mit denen Laien für Verunsicherung bei anderen Laien sorgen. Denn oft schwingt in der Frage auch ziemlich viel Unterstellung mit. Warum hat da noch nie jemand dran gedacht; habt ihr gemeint, wir merken es nicht; es kann ja kein Zufall sein, dass…
«Was läuft da eigentlich?!»
Eine dieser fragenden Figuren nennt sich auf YouTube «Anti-Corona-Depro» und filmt sich selbst im Wald, wie er 20-Minuten-Referate hält. Seine Botschaft, vieles in Zweifel zu ziehen und dem Bundesrat besser nicht zu glauben, fällt auf fruchtbaren Boden. Einzelne Videos wurden häufiger angeklickt als eine Corona-Medienkonferenz der Landesregierung: fast 200'000 Mal. In den Kommentaren verschaffen brave Bürger ihrem Ärger Luft über die Einschränkung ihrer Freiheiten durch von fremden Mächten gesteuerte Behörden und Medien.
Denn die Zahlen und Fakten irritieren, verärgern, rühren beinahe zu Tränen: «Was läuft da eigentlich?!» Anti-Corona-Depro ist verzweifelt, denn er hat doch in Medienarchiven und beim Bundesamt für Statistik recherchiert. So schlimm kann dieses Coronavirus gar nicht sein, wie die einem eintrichtern wollen. Zeit also für einen Faktencheck.
Die Grippe ist auch schlimm: Richtig, aber falsch
Das Coronavirus kann gar nicht so schlimm sein, denn in der Schweiz ist bei etwa 7 Prozent der Verstorbenen die Todesursache eh schon «Atemwegserkrankungen». «Und Corona sagt man ja, habe auch mit Atemwegen zu tun.» Hundertausende gehen jedes Jahr wegen der Grippe zum Arzt, fünf bis 10 Prozent fangen sich Viren ein «ohne jegliches mediales Theater».
Richtig, abgesehen von doch ein bisschen medialem Theater rund um die Grippeimpfung. Warum dann aber viel mehr Theater beim Coronavirus? Weil es primär nicht um die Anzahl Virusträger geht, sondern um die Überlastung des Gesundheitssystems. Und weil noch ein paar andere Kennzahlen relevant sind.
Das Coronavirus hat eine höhere Sterblichkeitsrate als die Grippe und es verbreitet sich viel rasanter. Die wenigsten Grippe-Fälle brauchen eine Beatmungsmaschine, mit Corona könnten – ohne Lockdown – Hunderte in Schweizer Spitälern gleichzeitig rund um die Uhr Maschine, Fachpersonal und ein Intensivbett benötigen.
Schweden und Japan machen es ja auch anders
Von Kritikern der Pandemie-Hysterie und des Lockdowns immer wieder vorgebracht wird das Beispiel von Schweden. Dass Schweden mit zehn Millionen Einwohnern und einer mehr als zehn Mal so grossen Fläche wie die Schweiz mehr Platz hat, lässt man nur knapp als Argument gelten.
Denn Schwedinnen und Schweden dürfen ja auch in Bars und Restaurants gehen. Ist man im Land der Nobelpreise halt einfach schlauer als der Rest der Welt?
Experten verfolgen die Entwicklung jedenfalls mit grossem Interesse, aber auch hier gilt: Es kommt darauf an, welche Zahlen man vergleicht. Schweden hat ohne Lockdown «nur» etwa 27'000 Fälle, die Schweiz mit Lockdown 30'000. Hingegen ist die Sterblichkeitsrate in Schweden viel höher. Vor allem aber sind die Fallzahlen weiterhin deutlich zunehmend, während in der Schweiz die berühmte Kurve fast ebenaus geht. Kommt dazu: Ökonomen gehen davon aus, dass die schwedische Wirtschaft ungefähr den gleichen Rückschlag erleiden wird wie die schweizerische.
Bei Japan loben die Lockdown-Kritiker, dass keine verfassungsmässigen Rechte eingeschränkt wurden. Vergleicht man allerdings die Fallzahlen mit Südkorea, wo die Ausgangslage sehr ähnlich war, zeigen sich deutliche Unterschiede. Während Südkorea über dem Berg ist, verpatzte Japan das Krisenmanagement nicht nur bezüglich Lockdown.
Sind die Medien zu wenig kritisch?
Klar ist: Die Lockdown-Massnahmen treffen uns in vielen Bereichen hart. Dass die Medien nicht zu wenig kritische Fragen stellen, sieht dagegen jeder, der mal einen der «Point-de-Presse auf Fachebene» mitverfolgt hat.
Trotzdem wettert Anti-Corona-Depro fleissig gegen Medienvertreter, insbesondere der Tagesschau. Dort wurden Ende April die Zahl der Grippe-Toten in den USA (34'000) den Corona-Toten (52'000 innert vier Wochen) gegenübergestellt – ein Aufreger sondergleichen.
Doch hierin liegt einer der Grundpfeiler des Erfolgs von solchen Videos: Die Zahlen sind korrekt, doch «irgendetwas stimmt da nicht». Wenn die kleine Schweiz 2'500 Grippe-Tote hatte, sollte die 38,5-mal grössere USA dann nicht eher 96'000 Grippe-Tote gehabt haben? «Überlegt euch das mal», ein sehr beliebter Satz in solchen Zusammenhängen.
Futter für Verschwörungstheorien
Wir haben nicht überlegt, sondern nachgeschaut. Die Grippewelle beziehungsweise die Sterblichkeit lag 2018/19 in den USA «deutlich tiefer als in der Saison 2017/18». Das steht im «Bericht zur Grippesaison 2018/19» des BAG mit Verweis auf US-Studien, eine Quelle, die Anti-Corona-Depro für andere, aufregendere Zahlen ebenfalls zitiert.
Das bewusste oder unbewusste Weglassen von Information ist fürs Publikum verfänglich, schürt aber genau die Hysterie, die eigentlich angeprangert werden soll. Entsprechend wimmelt es von angedeuteten, aber nicht überprüfbaren Verschwörungstheorien in den Online-Kommentaren. Davon werden dann selbst Bundesratsparteien wie die SVP nicht verschont. Ihr virtuelles «SVP bi de Lüt mit Nationalrat Roger Köppel» ist mit zustimmenden Kommentaren gesegnet, die das ganze Verschwörungsspektrum auf einmal abdecken.