Gratis Verhütung: Die Schweiz hinkt hinterher
Das Wichtigste in Kürze
- In der Schweiz muss Verhütung selbst bezahlt werden – für Westeuropa ungewöhnlich.
- Im europäischen Vergleich schneidet die Schweiz bezüglich Familienplanung mittelmässig ab.
- Mindestens für vulnerable Gruppen wäre gratis Verhütung sinnvoll, so Sexuelle Gesundheit.
Jede dritte Schwangerschaft bei unverheirateten Müttern in der Schweiz ist ungeplant. Bei Verheirateten ist es eine von fünf. Laut einem Policy Brief von Sonja Merten der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen sind hohe Kosten ein wichtiger Grund für ökonomisch schlechter gestellte Frauen, nicht zu verhüten.
In der Schweiz, im Gegensatz zu zum Beispiel Frankreich, müssen alle Verhütungsmittel selbst bezahlt werden. Abtreibungen hingegen werden von der Krankenkassen übernommen. Laut Merten schafft das einen finanziellen Fehlanreiz.
Mehr Chancengleichheit beim Zugang zu Verhütungsmittel
In vulnerablen Bevölkerungsgruppen und solchen mit Migrationshintergrund seien Schwangerschaftsanbrüche häufiger. Es brauche mehr Chancengleichheit beim Zugang zu Verhütungsmittel: durch Kostenübernahme der Krankenkassengrundversicherung und der Reduktion der sprachlichen Barriere bei der Information Betroffener.
So fehlen zum Beispiel Dolmetschdienste, welche sprachunkudigen Migrantinnen und Migranten die komplexen Informationen zur Verhütung vermitteln könnten.
Auch der aktuelle «Contraception Policy Atlas» zeigt: Die Schweiz hinkt hinterher, was Verhütung anbelangt. Nebst Italien ist sie das einzige Land in Westeuropa, das einen Wert von unter 60 Prozent erreicht. Das auch nur, weil es bei der Informationsbeschaffung punkten kann – was die Besorgung und Finanzierung betrifft, schneidet die Schweiz schlecht ab.
Barbara Berger, Geschäftsleiterin von «Sexuelle Gesundheit», bestätigt: Der Atlas bringe zum Ausdruck, «dass die Schweiz eine gute Zugänglichkeit zur professionellen Verhütungsberatung kennt, jedoch Verhütungsmittel selbst bezahlt werden müssen.» Dies führe zu einem mittelmässigen Rang 46.
Dabei verweist sie auch auf aktuelle Auswertungen des Schweizerischen Gesundheitsobservatorium. Deren Analyse ergibt: «Personen mit einem tiefen Einkommen verhüteten unabhängig vom Migrationsstatus im Schnitt weniger häufig als andere Personen in derselben Altersgruppe. Insbesondere auch weniger oft mit hormonellen Verhütungsmitteln, wobei die Kosten der Verhütungsmittel eine Rolle spielen mögen.»
Es bestünden gewisse Lücken in der Gesundheitsversorgung, heisst es weiter. «Besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen haben oft keinen Zugang zur ganzen Palette der zur Verfügung stehenden Verhütungsmittel.»
Wahl von Verhütungsmittel hängt von Einkommen ab
Dies möge darin begründet sein, dass zurzeit die Verhütungsmittel auch nicht für speziell vulnerable Personengruppen wie Armutsbetroffene, Sozialhilfebeziehende, Flüchtlinge oder Jugendliche Teil des Leistungskatalogs der Krankenkassen sind. Die Tatsache, dass hormonelle Verhütungsmittel in der Schweiz verschreibungspflichtig seien, erleichtere den Zugang besonders für Jugendliche ebenfalls nicht.
In der Schweiz hänge die Wahl des Verhütungsmittels vom persönlichen Einkommen ab, so auch das Fazit von Berger.
«Die Wahl der Verhütung leidet, weil ich nicht aufgrund meiner Bedürfnisse, sondern aufgrund der finanziellen Möglichkeiten entscheiden muss.» Langfristig sichere Verhütungsmethoden seien teuer.
«Verhütung ist eine Frage der Gesundheit»
«Die Investition sprengt das Haushaltsbudget von Personen in prekären Verhältnissen, auch wenn eine langfristige Methode ihre Wahl wäre.» Obwohl langfristige Methoden über längere Zeit kostengünstiger seien.
Sie bestätigt, dass gratis Verhütung in der Schweiz Sinn ergeben würden – mindestens für Schlüsselgruppen, wie Jugendliche bis 25 Jahre, soziökonomische schwächere Personen oder Personen auf der Flucht.
Befürworten Sie gratis Verhütung in der Schweiz?
«Andere Länder, wie Luxemburg oder Frankreich, die Massnahmen ergriffen haben, um Personen bei ihren Verhütungsentscheiden zu unterstützen, haben nicht schlechtere Statistiken als die Schweiz.»
Die Erkenntnis sei jedoch klar: dass Verhütung eine Frage der Gesundheit ist, sagt Berger. «Und, dass es aus der Sicht der öffentlichen Gesundheit eine gute Investition ist, Menschen in der Verhütungsfrage zu unterstützen, gerade auch finanziell.»