Ist häusliche Gewalt ein Ausländerproblem?
Nach dem Mord in Rupperswil AG steht für die SVP fest: Es handle sich um «importierte Gewalt». Nau.ch hat bei Expertinnen nachgefragt, was getan werden kann.
Das Wichtigste in Kürze
- Häusliche Gewalt ist weit verbreitet, rund die Hälfte der Täter sind keine Schweizer.
- Trotzdem sei es verheerend, das Problem auf diesen Faktor reduzieren, sagen Expertinnen.
- Sie erklären, wie solche Gewalttaten künftig besser verhindert werden könnten.
Am vergangenen Mittwoch ereignet sich in Rupperswil im Kanton Aargau ein schockierendes Tötungsdelikt: Am helllichten Tag sticht ein Mann mitten im Dorf mit einem Messer auf eine Frau ein. Für das Opfer kommt jede Hilfe zu spät, die Frau verstirbt noch am Tatort. Der mutmassliche Täter, ein 57-jähriger Mann aus Sri Lanka, lässt sich von der herbeieilenden Polizei widerstandslos festnehmen.
Gegenüber Nau.ch erklärt Polizeisprecher Bernhard Graser, dass es sich bei Opfer und mutmasslichem Täter um Eheleute handelt – ein klassisches Beziehungsdelikt. Keine zwölf Stunden später veröffentlicht die SVP ein Editorial unter dem Titel «Es reicht mit der importierten Gewalt». Für die Volkspartei steht eine «komplett gescheiterte, linksgrüne Asylpolitik» am Ursprung der Bluttat.
Ein importiertes Problem?
In der Schweiz wird gemäss BFS fast alle zwei Wochen eine Person im «familiären Kontext» ermordet. Drei Viertel davon sind Frauen oder Mädchen. Meistens sind die Täter enge Vertraute der Opfer – Ehemänner, Lebenspartner oder Ex-Freunde. Obwohl die Zahl der Tötungsdelikte insgesamt rückläufig ist, hat sich die Zahl der Tötungsdelikte innerhalb von Partnerschaften kaum verändert.
Tatsächlich sind die Täter in rund der Hälfte der Fälle ausländischer Herkunft: Bei einem Ausländeranteil von rund einem Viertel muss man von einer signifikanten Überrepräsentation sprechen. Trotzdem könne man das Problem der häuslichen Gewalt nicht kausal auf die Migration zurückführen, erklärt Sonja Roest. Sie ist die Leiterin der Abteilung Gewaltschutz und Opferhilfe im Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt.
Persönliche Gewalterfahrungen als möglicher Auslöser?
Roest betont, dass persönliche Gewalterfahrungen einen grossen Einfluss auf die Verbreitung von Gewalt haben können. Viele Menschen, die als Asylbewerber oder Flüchtende in die Schweiz kommen, seien bereits vorbelastet: «Einschneidende, biografische Ereignisse haben einen Einfluss darauf, ob jemand selbst zum Opfer oder Täter wird.»
Dem stimmt auch Lis Füglister zu, die Leiterin der Berner Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt. Diese Faktoren seien bei Personen, die aus belasteten Verhältnissen stammen oder eine Migrationsgeschichte erlebten, weiter verbreitet: «Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass sich Gewaltspiralen in allen sozialen Milieus und bei allen kulturellen Hintergründen entwickeln können.»
Nicht nur ein Ausländerproblem
Das Problem lediglich als Ausländerproblem zu bezeichnen, wäre verheerend, so Roest: «Damit würde ein grosser Teil der Betroffenen komplett ausgeblendet.» Natürlich seien gewisse Ausprägungen kulturell konnotiert, doch traditionelle, patriarchale Bilder über Geschlechterrollen seien auch bei Schweizern weit verbreitet.
Ähnlich formuliert es auch Anna-Béatrice Schmaltz, Projektleiterin Prävention geschlechtsspezifische Gewalt der feministischen Friedensorganisation «CFD»: «Der Nährboden für geschlechtsspezifische Gewalt ist fehlende Gleichstellung.» Dazu gehörten auch patriarchale und sexistische Werthaltungen. Es sei kontraproduktiv, spezifische Formen der Gewalt nur bestimmten Bevölkerungsgruppen zuzuschreiben.
Überdies hebt Roest hervor, dass die vorhandenen Statistiken zu häuslicher Gewalt im Allgemeinen bestenfalls die Spitze des Eisberges abbildeten. «Es ist wie Kaffeesatz-Lesen: Je nach Dunkelziffer-Schätzung ist davon auszugehen, dass nur zehn bis zwanzig Prozent der tatsächlichen Fälle bei der Polizei gemeldet werden.»
Wie kann häusliche Gewalt verhindert werden?
Die grösste Herausforderung in Sachen Prävention von häuslicher Gewalt sei, dass die Behörden überhaupt und frühzeitig eingeschaltet werden: «Meistens kann die Gewaltspirale nur mit Unterstützung von Aussen durchbrochen werden», erklärt Roest. Betroffenen falle es oft schwer, aus langjährigen Beziehungen auszubrechen. Am Ursprung hierfür stünden ambivalente Gefühle, gemeinsame Kinder oder finanzielle Abhängigkeiten.
Gewalttaten im häuslichen Kontext entwickelten sich oft stufenweise, weshalb eine Intervention frühzeitig stattfinden müsse. Aus diesem Grund seien in zahlreichen Kantonen verschiedene präventive Massnahmen ergriffen worden. Diese zielten einerseits darauf ab, den Austausch zwischen den involvierten Behörden zu erleichtern und die statistische Erfassung zu verbessern.
Andererseits verfolgten die Massnahmen auch das Ziel, potenziellen Opfern die Handlungsmöglichkeiten innerhalb des Systems aufzuzeigen. Oft hätten Betroffene Angst davor, das Sorgerecht über die Kinder zu verlieren, sobald die Polizei eingeschaltet wird. Schliesslich arbeiten Fachstellen auch daran, konkrete Verhaltenstipps für das Umfeld bereitzustellen, um die Früherkennung zu verbessern und Zivilcourage zu stärken.
Grundsätzliches Problem: «Asymmetrische Grundhaltung»
Schliesslich verweist Roest auch auf das grundsätzliche Problem einer «asymmetrischen Grundhaltung»: Die Verhinderung von unrechtmässigen Eingriffen in persönliche Freiheiten sei hierzulande ein hohes Gut. Dies führe zu einer gewissen Zurückhaltung bei präventiven Massnahmen.
«Das ist weder richtig noch falsch – das ist einfach eine Tatsache», erklärt Roest. In Fragen des Opferschutzes würde eben diese Tatsache den Verantwortlichen aber gewisse Hürden in den Weg legen.
Um Betroffene zu unterstützen, müssten Beratungsangebote breit bekannt sein. Ausserdem brauche es umfassende Statistiken zu Ausbreitung, Motiven und Hintergründen. Es zeigt sich: Häusliche Gewalt ist ein enorm vielschichtiges Problem, weshalb zahlreiche Perspektiven miteinbezogen werden müssen. Und: Häusliche Gewalt muss gesamtgesellschaftlich angegangen werden. Die Reduktion auf einen einzelnen Faktor ist ebenso wenig zielführend, wie eine Nichtbeachtung desselben.
Schnelle, fachliche Hilfe für Betroffene bietet «AppElle» unter der Telefonnummer 031 533 03 03. Die Fachstelle ist rund um die Uhr erreichbar. In akuten Fällen sollte der Notruf 112 gewählt werden.