Rechts-Experte nach EGMR: «Bin vorsichtig mit der Champagnerlaune»
Rechtsexperte Johannes Reich zweifelt daran, dass das EGMR-Urteil zu den Klimaseniorinnen politische Veränderungen herbeiführen kann.
Das Wichtigste in Kürze
- Der EGMR hat entschieden: Die Schweiz verletze in Sachen Klimaschutz die Menschenrechte.
- Konkrete politische oder juristische Konsequenzen werde dieses Urteil jedoch keine haben.
- Veränderungen könnten nur durch Volksentscheide herbeigeführt werden, so der Experte.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am Dienstag ein historisches Urteil gefällt: In Sachen Klimaschutz verletze der Bundesrat die Menschenrechte – das Gericht ist auf die Beschwerde des Vereins «Klimaseniorinnen» eingetreten.
Der EGMR hatte sich zuvor noch nie explizit zur Verantwortung von Staaten für Massnahmen gegen den Klimawandel geäussert. Konkrete Folgen für die Schweiz dürfte der Entscheid alleine aller Voraussicht nach keine entfalten. Dies erklärt Rechtsprofessor Johannes Reich von der Universität Zürich gegenüber dem «Spiegel».
Reich ist Experte auf dem Gebiet der Umwelt- und Menschenrechte. Er ist überzeugt: «Die Seniorinnen hatten vor den schweizerischen Gerichten keinen Erfolg mit ihrem Anliegen. Sie wurden nicht einmal angehört.»
«Rein deklaratorisches Urteil»
Er habe erwartet, dass die Chancen der Seniorinnen in Strassburg besser stehen würden. Dennoch betont der Rechtsprofessor: «Es hätte auch gut sein können, dass das Gericht zu einem anderen Urteil gekommen wäre.»
Trotz dieses bedeutenden Sieges bleibe aber unklar, ob das Urteil tatsächlich politische Veränderungen bewirken könne. Laut Reich ist das Urteil «rein deklaratorisch» – konkrete Vorgaben für die Schweiz würden daraus keine erwachsen. Es gebe also keine unmittelbaren juristischen und politischen Folgen wie strengere Vorgaben für Verbrennungsmotoren oder neue Förderungen für Solardächer.
«Deshalb bin ich auch etwas vorsichtig mit der Champagnerlaune, die wir in den letzten Tagen gesehen haben!» Konkrete politische Veränderungen führten in der Schweiz immer über die Politik – etwa über eine Volksinitiative, gibt Reich zu bedenken.
Veränderungen in der Schweiz durch Volksentscheide
Das bedeute, dass echte Veränderungen wahrscheinlich nur durch Volksentscheide erreicht werden können. Aber das Urteil könne zumindest dazu beitragen, den politischen Preis für Untätigkeit in Klimafragen zu erhöhen.
Die Reaktionen auf das Urteil sind gemischt. Während grüne Parteien das Votum feiern, machen sich rechte Parteien Sorgen um einen möglichen Einfluss ausländischer Gerichte auf Berner Entscheidungen.
Der Bundesrat hat gestern angekündigt, dass das Urteil noch «im Detail» geprüft werden müsse. Albert Rösti hatte aber bereits angedeutet, dass die Schweiz in Sachen Klimaschutz «gut unterwegs» sei. Hier ist Reich anderer Ansicht: «Die Schweiz hat 2020 ihr Klimaziel verfehlt. Es ist ihr nicht gelungen, ihre Emissionen gegenüber 1990 um 20 Prozent zu senken.»
Trotzdem ist Reich sicher, dass das Urteil wenigstens im Bereich der Rechtsprechung einen Paradigmenwechsel darstelle: «Objektive Rechtsgrundsätze werden in dem Sinne subjektiviert, dass sie von Individuen eingeklagt werden können», erklärt er. «Und die Menschenrechte eignen sich besonders gut, da sie auch einen moralischen Gehalt haben.»
Er gehe davon aus, dass in Zukunft zunehmend auch private Unternehmen in die Verantwortung genommen werden. «Im Gegensatz zur Klage der Klimaseniorinnen könnten hier nämlich wirklich konkrete Konsequenzen für das Unternehmen entstehen», schliesst Reich ab.