«Skandal»: Schweiz soll Corona-Flüchtlinge aus Moria aufnehmen
Das Wichtigste in Kürze
- Die Schweiz soll Flüchtlinge aus Griechenland einfliegen, fordern NGO und Politiker.
- Der Bund bot Hilfe an, doch der Prozess wurde wegen Corona gestoppt.
- Nun drohe in den Flüchtlingscamps eine humanitäre Katastrophe, so die Kritik.
Camp Moria, Insel Lesbos, Griechenland. 20'000 Personen leben hier eng auf eng in unhygienischen Zelten, auf einem Hügel, auf schlammigem Boden zwischen ein paar wenigen Bäumen. Spärlich fliessendes Wasser, wenige Toiletten, keine Waschmöglichkeiten, keine Seife. Essen kommt von Hilfsorganisationen. Arbeit und Ausgänge gibt es keine. Aus Angst vor dem Coronavirus sind die meisten Helfer allerdings abgereist. Moria ist dem tödlichen Virus schutzlos ausgeliefert.
Zur selben Zeit, weiter nordwestlich: Irgend ein Dorf, eine Stadt in Europa, der Schweiz. Die Menschen haben sich in ihre Häuser zurückgezogen, meiden Kontakte zu anderen Menschen. Sie haben sich mit Essen, Desinfektionsmittel, WC-Papier eingedeckt. Sie waschen sich fleissig die Hände. Der Bund hat 42 Milliarden Franken versprochen, um ihre Einkommen zu sichern. Das Gesundheitspersonal leistet Aussergewöhnliches, aber die Zahl der Erkrankten kann bewältigt werden.
Forderungen an Europa
Über Moria hangen pechschwarze Wolken. Gelangt das Coronavirus in das Lager droht eine humanitäre Katastrophe. Die warnenden Stimmen gehen im medialen Coronatornado allerdings unter.
Etwa Amnesty Schweiz. Schon vor über zwei Wochen forderte die Menschenrechtsorganisation: «Angesichts der humanitären Tragödie an der griechisch-türkischen Grenze und in den Flüchtlingslagern fordert Amnesty International den Bundesrat auf, Flüchtlingen auf den griechischen Inseln Schutz zu bieten.» Die Schweiz soll möglichst viele Flüchtlinge aufnehmen.
Ohne hygienischen Schutz oder notwendige sanitären Anlagen sei ein Schutz vor der Ansteckung unmöglich. «Das Leben von Tausenden von Personen ist durch das Virus bedroht.» Es gebe darum nur eines, so Amnesty: Evakuieren. Und zwar möglichst schnell.
Die gleiche Forderung nahmen auch Grüne und die SP auf. Das Lager sei sofort zu evakuieren. Die Schweiz müsse eine grosse Zahl Geflüchteter aufnehmen.
Fabian Molina war zweimal in Moria. Er beschreibt die Situation als «katastrophal» und «desaströs». Für den SP-Nationalrat ist klar: «Alle europäischen Dublin-Staaten – und dazu gehört explizit auch die Schweiz – haben eine Verantwortung, die Lager auf den griechischen Inseln so rasch als möglich zu evakuieren. Das Recht auf Gesundheit gilt auch für Geflüchtete.»
Die Schweiz solle rasch und unbürokratisch Geflüchtete aufnehmen und sie vor Ansteckungen schützen. Nachdem sich die Lage normalisiert hat, soll ihnen hier ein ordentliches Verfahren gewährt werden, wie im Dublin-Vertrag vorgesehen.
Die Schweiz will helfen, kann aber nicht
Beim Staatssekretariat für Migration SEM blieb man aber nicht untätig. «Die Schweiz anerkennt die Probleme Griechenlands und ist besorgt über die prekäre Situation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln», sagt der stellvertretende Informationschef Reto Kormann.
Die Schweiz sei bereit, unbegleitete minderjährige Jugendliche mit familiären Beziehungen zu bereits in der Schweiz lebenden Angehörigen im Rahmen der Dublin-Bestimmungen rasch aufzunehmen. Alle von Griechenland gestellte Gesuche wurden von der Schweiz bisher bestätigt. Allerdings konnten die Minderjährigen wegen des durch die Corona-Krise stark eingeschränkten Reiseverkehrs noch nicht in die Schweiz reisen.
Eine weitere Schwierigkeit: «Die Umsiedlung von Migranten aus griechischen Flüchtlingslagern in andere Staaten Europas muss koordiniert ablaufen», erklärt Kormann. Doch nach wie vor sei nur eine Minderheit der EU-Mitgliedstaaten bereit, sich zu beteiligen.
Gemäss Barbara Büschi vom Bundesamt für Justiz ist es derzeit allerdings unmöglich, unbegleitete Minderjährige in die Schweiz zu bringen. «Die Aussage des EJPD ist ein Skandal», findet Molina.
«Selbstverständlich wäre es möglich, unbegleitete Minderjährige und weitere Geflüchtete aus Moria einzufliegen. Die umfassendste Repatriierung von Schweizer Touristinnen und Touristen in der Geschichte der Schweiz zeigt, dass dies eine Frage des politischen Willens ist.» Doch die Solidarität von Justizministerin Karin Keller-Sutter sei offensichtlich mehr als beschränkt, so Molina.