Soziologe erklärt die grosse Sympathie für ukrainische Flüchtlinge
Das Wichtigste in Kürze
- In Europa häufen sich Spenden und Unterkunftsangebote für ukrainische Flüchtlinge.
- Diese grosse Solidarität ist während früheren Flüchtlingswellen jedoch oft ausgeblieben.
- Der Unterschied habe mit einer sozialen Nähe zur Ukraine zu tun, sagt ein Soziologe.
«Die Solidarität in der Bevölkerung ist sehr gross», sagte Bundesrätin Karin Keller-Sutter vor einer Woche. Der Bundesrat hatte entschieden, zum ersten Mal überhaupt den Schutzstatus S für ukrainische Geflüchtete zu aktivieren.
In jener Woche hatten sich mehrere Bürgerinnen und Bürger beim SEM gemeldet: Sie wollten wissen, ob sie Geflüchtete bei sich zu Hause aufnehmen könne. Sogar der SVP-Asylhardliner Andreas Glarner hat sich in den Medien bereit erklärt, eine Familie zu beherbergen.
Ein paar Tage später veranstaltet die Glückskette eine Spendenaktion für ukrainische Flüchtlinge. Die Schweiz spendet an einem Tag 51,5 Millionen Franken und insgesamt 80 Millionen. Für die Aktion «Hilfe in Afghanistan» kamen bisher «nur» 4,7 Millionen zusammen.
«Wir können uns nicht einreden, dass das alles nichts mit uns zu tun hat»
Woher stammt diese plötzliche Solidarität für Flüchtlinge? Albert Scherr, Professor für Soziologie und Experte für Rassismus und Flucht, gibt Antworten. Der Dozent an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg im Breisgau hat ein Buch mit dem Titel «Wer ist Flüchtling?» geschrieben.
«Flüchtlinge aus der Ukraine werden als unschuldige Opfer eines Kriegs wahrgenommen», sagt Scherr. Die Ursache des Kriegs werde zudem einem «gefährlichen und irrationalen Tyrannen» zugeordnet. Deswegen sei ein Konsens entstanden, dass ukrainische Geflüchtete möglichst viel Mitgefühl und Hilfe verdienten. «Dieser Konsens wird durch politische Akteure und Medienberichterstattung gestützt», fügt der Soziologe hinzu.
Der Krieg in der Ukraine bedrohe aber nicht nur die Bewohnenden des Lands, sondern indirekt auch «unsere Werte und politische Ordnung». «Wir können uns nicht einreden, dass das alles nichts mit uns zu tun hat» führt Scherr aus. Die Ukraine sei in Europa, nicht in einer Weltregion, in der wir Diktaturen und Bürgerkriege als normal betrachteten.
Die soziale Nähe macht's aus
Zusätzlich seien die Mehrheit der Flüchtlinge Frauen und Kinder, sagt Albert Scherr: «Sie können in keiner Weise als bedrohlich dargestellt werden.» Das sei bei Flüchtlingen aus afrikanischen oder muslimischen Ländern anders.
Es handle sich hier um ein Phänomen, das in der Soziologie als «soziale Nähe» und «soziale Distanz» bezeichnet werde, so Scherr. Menschen, die einem ähnlich seien, lösten ein Gefühl von Verantwortlichkeit aus: soziale Nähe. Umgekehrt werde bei «Fremden» Vorurteile und Ideologien eingeschaltet, was zur sozialen Distanz führe.
Heisst also, für Personen aus dem europäischen Kontinent fühlten sich viele moralisch verantwortlich. Dazu gehöre auch die «erforderliche» Öffnung der Grenzen. Für Syrer, Afghaninnen oder Eritreer hingegen gelte es als zulässig, Europa abzuschotten. «Ohne, dass dies als ein fundamentaler Widerspruch gilt», sagt Scherr abschliessend.