Studie schlägt Alarm: 70 Prozent der Sexarbeiterinnen erleben Gewalt
Eine neue Studie zeigt: Die Mehrheit der Sexarbeitenden ist von Gewalt betroffen. Die Politik wird aufgefordert, dringend bessere Rahmenbedingungen zu schaffen.
Das Wichtigste in Kürze
- Gewalt und Übergriffe betreffen die Mehrheit der Sexarbeitenden in der Schweiz.
- Dies geht aus einer neuen Studie hervor.
- Die Sexarbeitenden wollen nun in politische Entscheidungsprozesse einbezogen werden.
Die Ergebnisse seien alarmierend, schreibt ProCoRe, das nationale Netzwerk für die Rechte von Sexarbeitenden in der Schweiz. Seine neue Studie zeigt: Gewalt und Übergriffe sind weit verbreitet in der Branche.
Zu den häufigsten Formen von Gewalt gehört das sogenannte «Stealthing», das heimliche Entfernen des Kondoms. 70 Prozent der Befragten sind gemäss Studie davon betroffen.
Gewalt bei Sexarbeit: Nicht nur durch Kunden
Die Studie basiert auf den Erfahrungen von 24 Sexarbeiterinnen im Alter zwischen 28 und 63 Jahren. Die Untersuchung bestätige den internationalen Forschungsstand, dass Sexarbeitende überproportional von Gewalt betroffen seien, sagt Rebecca Angelini von ProCoRe. Trotzdem seien einzelne Ergebnisse in ihrer Deutlichkeit überraschend: «Über 70 Prozent erleben sexualisierte Gewalt durch Freier, über 50 Prozent erleben Diskriminierung, auch durch Institutionen.».
Nicht nur Kunden sind Täter – auch Passanten, Kollegen oder Ehepartner werden genannt. Viele Betroffene, rund zwei Drittel, haben ihre Erlebnisse geteilt und Hilfe gesucht. Dies trotz hoher Hemmschwelle aufgrund von Angst, Scham oder Unkenntnis über die verfügbaren Dienste.
Mehrfachdiskriminierung als Ursache
Gewalt gegenüber Sexarbeitenden sei kein isoliertes Phänomen, betont Miss Juli vom Sexworkers Collective, die sich als Sexarbeiterin selbständig gemacht hat: «Es ist sehr oft Gewalt gegenüber Frauen durch Männer». Es spiegle aber auch die allgemeine Diskriminierung wider, sagt Rebecca Angelini von ProCoRe. «Die gesellschaftliche Stigmatisierung von Sexarbeitenden senkt zusätzlich die Hemmschwelle, Gewalt auszuüben.»
Beim Stealthing hofft Angelini noch auf Gerichtsurteile. «Strafbar ist es erst seit Juli, da fehlt schlicht noch die Erfahrung, ob es auch wirklich zu Urteilen kommt.» Die Angst der Sexarbeiterinnen, eine Anzeige zu machen, sei aber berechtigt.
«Da erhoffen wir uns eine Sensibilisierung seitens der Polizei», so Angelini. «Dass sie es ernst nehmen, wenn eine Sexarbeiterin über das Erlebte berichtet.» Sensibilisierung von Polizei und Justiz sei eine ihrer Hauptforderungen. Auch illegal tätige Sexarbeitende müssten ohne Angst eine Anzeige wegen Gewalt machen können.
Trotz der schwierigen Umstände haben viele Sexarbeitende eigene Strategien entwickelt, um sich zu schützen und mit Gewalterfahrungen umzugehen. Hier helfe unter anderem Aufklärungsarbeit und Kommunikationstraining, sagt Miss Juli vom Sexworkers Collective. «In der Kommunikation kann man sehen, ob jemand Grenzen nicht respektiert. Aber wenn man halt mega auf das Geld angewiesen ist, nimmt man eher Kunden an, die
Forderungen an die Politik
Die Studie fordert dringend politische Massnahmen zum Schutz der Sexarbeitenden. Dazu gehören rechtliche Rahmenbedingungen, Prävention und Unterstützung für Betroffene. Die neu gegründete Schweizer Koalition für die Rechte von Sexarbeitenden will diese Forderungen vorantreiben.
Neben ProCoRe gehören zur Koalition verschiedene NGOs: Menschenrechtsorganisationen, Sexuelle Gesundheit Schweiz, das Sexworkers Collective, LGBTQ-Organisationen, aber auch der Katholische Frauenbund.
Sexarbeitende in politische Entscheidungen einbeziehen
Die Organisationen der Koalition sind sich einig: Die Kriminalisierung der Sexarbeit verschlechtert die Situation der Sexarbeitenden. Miss Juli, Vertreterin des Sexworkers Collective, fasst es folgendermassen zusammen: «Es braucht eine Entkriminalisierung der Sexarbeit sowie den Einbezug von uns Sexarbeitenden in die politische Entscheidungsfindung.»
Miss Juli betont: Nur dies führe zu einer nachhaltigen Verbesserung der Situation und biete Schutz vor Gewalt und Ausbeutung in der Sexarbeit. Eine Kriminalisierung der Freier würde die Situation der Sexarbeitenden noch weiter verschlechtern, warnt aber die Koalition.
Auch wenn die Mehrheit der Täter Freier seien, bedeute dies nicht, dass jeder Freier gewalttätig sei, sagt Studienautorin Lorena Molnar. «Im Gegenteil gibt die Mehrheit der Befragten an, dass sie die Freier als respektvoll empfinden.»
Dieses Resultat bestätige die bisherige internationale Forschung. Diese zeige, dass dort, wo Sexarbeit legal ist, Gewalt generell abnehme. «Gerade auch Gewalt durch Polizei oder Passantinnen und Passanten», so Lorena Molnar,