Werden jetzt Stromausfälle wahrscheinlicher?
Mit dem Aus für das Rahmenabkommen könnte das Risiko für Stromausfälle noch steigen. Strommangel gilt bereits jetzt als grössere Gefahr als eine Pandemie.
Das Wichtigste in Kürze
- Das grösste Risiko für die Schweiz ist wohl soeben noch grösser geworden.
- Nicht die Pandemie, sondern die «Strommangellage» führt diese Rangliste an.
- Strommangel und Stromausfälle werden ohne Rahmenabkommen wohl wahrscheinlicher.
Dass es nicht ohne Folgen bleiben wird, wenn der Bundesrat das Rahmenabkommen mit der EU beerdigt, war klar. Im Warenverkehr wird es mühsame Hürden geben, anderes wird zwar nicht mühsam sein, aber ohne Mitsprache der Schweiz geregelt werden. Bei einem Thema bestehen aber Risiken, die wenig mit EU-Knorz und fremden Richtern zu tun haben: Dem Strom.
Die technisch harmlos klingende «Strommangellage» gilt als grösstes Risiko für die Schweiz. Das sagen nicht etwa panikschürende Warner oder AKW-Lobbyisten. Sondern der rahmenabkommen-versenkende Bundesrat selbst und seine Experten. Wirtschaftliche Milliardenschäden, Höchstrisiken für innere Sicherheit und Versorgung, und: Es geht ans Lebendige.
Strom-Risiken pandemischen Ausmasses werden grösser
Gemäss der nationalen Risikoanalyse 2020 des Bundesamts für Bevölkerungsschutz (BABS) ist die Strommangellage Risiko Nummer 1, noch vor einer Pandemie. Mit dem Wegfall des Rahmenabkommens kommt aber auch das Stromabkommen mit der EU nicht zustande. Dadurch wird die Situation zumindest nicht besser.
«Das Risiko besteht unabhängig vom Rahmenabkommen», erklärte Bundespräsident Guy Parmelin gestern auf eine Frage von Nau.ch. «Es wird vielleicht verstärkt durch die Tatsache, dass dieses Abkommen aktuell nicht anwendbar ist.»
Auch die Denkfabrik «Avenir Suisse» warnt: «Ohne Abkommen entgleitet der Schweiz die Hoheit über das eigene Höchstspannungsnetz zunehmend.» Das ist schlecht für den Strommarkt und den Stromkunden, aber eben nicht nur auf finanzieller Seite.
Kalt Duschen war gestern: Tote und Verletzte
Die Schweiz sei beim Strom schrittweise vom prägenden Akteur zum an der Seitenlinie stehenden Beobachter abgestiegen, klagt «Avenir Suisse». Das kratzt am Ego, das macht Stromhandel schwieriger und teurer – um die 100 Franken pro Familienhaushalt und Jahr. Was ein Abkoppeln von umliegenden Stromnetzen im Extremfall für Folgen haben kann, hat sich diesen Winter aber in Texas gezeigt.
Der stolze, grosse US-Bundesstaat ist aus historischen Gründen nicht Teil des US-Stromnetz-Verbunds. Als in weiten Teilen während dreier Winterstürme der Strom ausfiel, war man auf sich selbst gestellt. Über 150 Personen starben. Ein Szenario, das sich nicht direkt auf die Schweiz übertragen lässt, aber aufzeigt, wie massiv Schäden durch Strommangel sein können.
Während in einer Pandemie die Intensivstationen «nur» überlastet sind, fehlt bei einer Strommangellage schlicht der Strom für die Beatmungsgeräte. Zwar haben Spitäler, Rechenzentren oder Grossbanken Notstromaggregate. Doch anderswo fallen Computer, Server, Telefon, Ampeln, Lüftung und Kühlung aus.
Behelfslösungen reichen nicht aus
Bereits heute führe der Drittlandstatus der Schweiz zu ungeplanten Stromflüssen durch die Schweiz, erläutert Energie-Experte Patrick Dümmler von «Avenir Suisse». Solche sogenannten «Loopflows» gefährden die Netzstabilität in der Schweiz. Wenn plötzlich zu viel Strom fliesst, kann das Netz zusammenbrechen.
Zwar wollen der Bundesrat und Swissgrid weiterhin als Ersatz für das Stromabkommen individuelle Verträge mit benachbarten Netzbetreibern abschliessen. Doch diese seien lediglich «eine Behelfslösung und ersetzen ein Stromabkommen längerfristig nicht». Das sagt der Bundesrat gleich selbst in seiner Antwort auf einen SVP-Vorstoss vom letzten Herbst.
Katastrophenszenario: Chaos pur
Die Strommangellage, beziehungsweise ein grosser, regionaler Stromausfall, waren bereits vor dem Ende des Rahmenabkommens eine grosse Gefahr für die Schweiz. Entsprechend laufen Vorkehrungen auf höchster Ebene, betont Bundespräsident Parmelin. Ohne Stromabkommen ist die Schweiz aber weiterhin ungeschützter als mit, und ein unbeabsichtigter Funken kann katastrophale Folgen haben.
Das erlebte auf umgekehrten Weg Italien 2003, als ein Kurzschluss in der Innerschweiz fast das ganze Land vorübergehend lahmlegte. Glück im Unglück: Es geschah mitten in der Nacht und es gab keine grösseren Zwischenfälle.
Wie solche aussehen könnten, hat die Schweiz ebenfalls evaluiert. Chaos auf den Strassen wegen dunklen Ampeln und steckengebliebenen Trams. «Besserung» tritt ein, weil auch das Benzin ausgeht, denn auch Zapfsäulen brauchen Strom. Die Wasserversorgung fällt teilweise aus, Lebensmittel verderben, Einkaufen geht nur noch mit Bargeld, das die Bancomaten aber nicht rausrücken.
Notrufzentralen werden überflutet, bis dann auch das Mobilfunknetz zusammenbricht, die Polizei muss Plünderungen und Übergriffe verhindern. Den Überblick hat kaum mehr jemand, weil Information und Kommunikation fast unmöglich sind. Es gibt Verletzte, Kranke und Tote, auch, weil die Rettungsdienste nicht erreichbar sind.
So wird dies im Szenario «gross» des BABS, einem Blackout im Sommer, beübt. Bei einer Strommangellage, wie sie eher für den Winter angenommen wird, verschieben sich die Akzente.
Ein solches Szenario könnte sich über mehrere Wochen erstrecken, Strom wäre nur zu bestimmten Uhrzeiten oder gar nicht verfügbar. Dann fallen unter anderem die Dutzenden Milliarden an Einbussen für die Wirtschaft um so mehr ins Gewicht.