Bürgergeld: Lohnt sich Arbeit in Deutschland noch?
Langzeitarbeitslose in Deutschland profitieren von massiven «Lohnerhöhungen» – Wirtschaftsexperten sind überzeugt: Oft würden die Anreize zum Arbeiten fehlen.
Das Wichtigste in Kürze
- Vor gut einem Jahr wurde in Deutschland Hartz IV durch das sogenannte Bürgergeld ersetzt.
- Bezüger der Sozialleistung profitieren von Erhöhungen von rund 25 Prozent in 13 Monaten.
- Eine heftige Debatte ist im Gange: Lohnt sich Arbeit in Deutschland überhaupt noch?
Seit der Einführung des Bürgergeldes vor einem Jahr tobt in Deutschland eine Debatte über dessen Umsetzung. Das Ausmass der Sozialleistung – die das frühere Arbeitslosengeld II (Hartz IV) ersetzt – senke die Arbeitsanreize.
Hintergrund der Debatte ist die Erhöhung des Bürgergeldes um rund 25 Prozent – innerhalb von 13 Monaten: Per 1. Januar 2024 wurde das Bürgergeld um zwölf Prozent erhöht. Bereits ein Jahr zuvor hatte der Übergang von Hartz IV eine Steigerung in ähnlicher Grössenordnung zur Folge.
Wer profitiert vom Bürgergeld?
Vor allem Langzeitarbeitslose sind auf das Bürgergeld angewiesen: Gegenwärtig beziehen rund 5,5 Millionen Menschen in Deutschland diese Leistung – darunter 1,5 Millionen nicht erwerbsfähige Personen wie Kinder. Rund die Hälfte der Bürgergeldempfänger hat keinen deutschen Pass.
Die Finanzierung erfolgt aus dem Staatshaushalt, also durch den Steuerzahler. Für das Jahr 2023 waren hierfür im deutschen Bundeshaushalt knapp 24 Milliarden Euro eingeplant. Eine Summe, die wohl überschritten wird.
Fehlende Anreize zum Arbeiten?
Kaum ein Arbeitnehmer dürfte in demselben Zeitraum zwei Lohnerhöhungen von zwölf Prozent erhalten haben. Darüber hinaus bekommen die Empfänger von Bürgergeld weiterhin die Kosten für eine «angemessene» Wohnung vom Staat bezahlt.
Bürgerliche Politiker und Wirtschaftsexperten aller Couleur sind sich einig: Die Sozialleistung nehme insbesondere Menschen im Niedriglohnbereich den Anreiz zum Arbeiten. Für sie würde sich Arbeit nicht mehr lohnen, da sie durch staatliche Zuwendungen mehr Einkommen generieren könnten, erklärt die NZZ.
Auch 64 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass sich Menschen wegen der Bürgergeld-Erhöhung gegen eine Erwerbstätigkeit entscheiden könnten. Zu diesem Resultat kam eine Umfrage des deutschen Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Magazins «Stern».
Erwerbstätigkeit auf Rekordniveau?
Jetzt nehmen neue Zahlen zur Erwerbstätigkeit aus dem Statistischen Bundesamt dieser Befürchtung den Wind aus den Segeln – vermeintlich: Seit der Einführung des Bürgergeldes habe die Erwerbstätigkeit in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht, die Befürchtung habe keine reale Grundlage.
Um die Wogen zu glätten, hatte der sozialdemokratische Arbeitsminister Hubertus Heil überdies eine Einschränkung vorgenommen: Wer so «bescheuert» sei, wegen des Bürgergeldes zu kündigen, der erhalte für zwei Monate keinerlei Zahlungen. Wenigstens dann nicht, wenn er sich konsequent weigere, eine «zumutbare» Arbeit anzunehmen, wie er in einer ARD-Talkshow erklärte.
Doch die Statistik der Erwerbstätigkeit spricht bei genauerer Betrachtung eine etwas andere Sprache: Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland mag derzeit auf einem Rekordniveau liegen.
Dies könnte aber lediglich den immensen Arbeits- und Fachkräftemangel in Wirtschaft und Verwaltung widerspiegeln. Bedarf für die rund vier Millionen arbeitsfähigen Bürgergeldempfänger existiert reichlich.
Massive Fehlanreize im Sozialsystem?
Auch Ökonomen und Arbeitsmarktexperten betonen: Obwohl es sich noch immer lohne, einer Arbeit nachzugehen, gebe es dennoch massive Fehlanreize im Sozialsystem.
Denn: Der Abstand zwischen Mindestlohn und Bürgergeld sei zu klein, wenngleich Erwerbstätige unter dem Strich noch immer etwas mehr haben. Immer häufiger scheint ein als fair empfundenes «Lohnabstandsgebot» nicht eingehalten.
Darüber hinaus sind die Sozialleistungen in Deutschland kaum aufeinander abgestimmt. Gerade in bestimmten Regionen lohnt sich ein höherer Lohn je nach Einkommensintervall nicht: Eine Lohnerhöhung würde zu erheblichen Kürzungen bei den übrigen Sozialleistungen – wie Kindergeld oder Wohngeld – führen. So würde Betroffenen unter dem Strich gar weniger Geld übrig bleiben.
Harmonisierung der Sozialleistungen nötig?
Entsprechend müsse das Prinzip «Fordern und Fördern» wieder gestärkt werden, argumentieren Bürgerliche: Strengere Sanktionen für unkooperative Leistungsempfänger seien zweifelsfrei ein erster Schritt.
Beim Vorschlag des SPD-Arbeitsministers bestehe allerdings der Verdacht, dass er primär darauf abziele, die aktuelle Diskussion etwas zu entschärfen. Es gilt abzuwarten, wer von den angedachten strengeren Regeln überhaupt betroffen ist.