«Geflohen» Teil V: Muslimische Patriarchen und einsame Schweizer

Nadine Brügger
Nadine Brügger

Bern,

Seit vier Jahren lebt die syrische Flüchtlingsfamilie Serieh in Bern. Zeit genug, um Unterschiede festzustellen und zu erkennen: Hier ist nicht alles besser.

Herbst 2017 im Berner Oberland. Vor vier Jahren floh die syrische Flüchtlingsfamilie Serieh aus Damaskus in die Schweiz. Zeit genug, um auf einige schweizerisch-syrische Ungleichheiten zu stossen.

Einsame, alte Schweizer

Am Anfang tat es ihr weh, die einsamen Alten zu sehen. «Bei uns kümmern sich die Kinder um ihre Eltern. Wenn ich die Menschen im Heim sehe, frage ich mich, ob meine Kinder mich wohl auch irgendwann in ein Heim schicken?»

Suher hat mit ihrem ältesten Sohn, Shadi, darüber gesprochen. «Seit du auf der Welt bist, pflege ich dich, sorge für dich, kleide dich und gebe dir Essen. Irgendwann musst du das auch für mich machen», hat sie ihm gesagt und er hat genickt.

Suher Serieh, Mutter von vier Kindern, arbeitet in einem Seniorenheim. Manchmal streichen die alten Leute ihr über die Hand und sagen «bisch ä Gueti». Diese Worte kann Suher auf Berndeutsch. Und dazu «öppis» und «äs bitzeli».

«Frauen sind in Syrien Prinzessinnen»

Auch Herr Serieh plagen Sorgen: Er hat noch immer keinen Job. «Das ist schlimm für ihn. Bei uns ist es die Aufgabe des Mannes, für die Familie zu sorgen», sagt Suher. Sie schaut auf – weiss genau, was der Westen über die patriarchalen Strukturen des Islam denkt.

Eine syrische Flüchtlingsfamilie flieht von Damaskus in die Berner Alpen. Der Kulturschock ist gross - auf beiden Seiten.
Eine syrische Flüchtlingsfamilie flieht von Damaskus in die Berner Alpen. Der Kulturschock ist gross - auf beiden Seiten. - Keystone / Nau.ch

«Frauen dürfen bei uns in Syrien auch arbeiten. Sie dürfen alles machen, was sie wollen. Aber sie werden von ihren Männern trotzdem behandelt, wie eine Prinzessin», verteidigt sie ihre Gesellschaft. Für sie sei das gut: «Warum sollte ich zum Beispiel die schweren Einkäufe heim schleppen, wenn er sie mir freiwillig abnimmt?»

«Damaskus war mal wunderschön», sagt Suher Serieh. In der Schweiz erlebt sie immer wieder, wie unterschiedlich die Gesellschaft hier und in Syrien doch ist.
«Damaskus war mal wunderschön», sagt Suher Serieh. In der Schweiz erlebt sie immer wieder, wie unterschiedlich die Gesellschaft hier und in Syrien doch ist. - Nau.ch

Die Telefonleitung nach Syrien ist tot

Mittlerweile machen die alten Menschen Suher nicht mehr traurig. Sie arbeitet gerne im Heim. «Die Stelle ist ein riesiges Glück», sagt sie. Allerdings nur 60 Prozent und befristet. «Mein grösstes Ziel ist es, von der Sozialhilfe weg zu kommen. Ich will niemandem auf der Tasche liegen.» Bloss ist da noch immer der Ausweis F.

Er drückt den Seriehs ähnlich schwer auf die Brust, wie die Sorge um ihre Familie in Syrien. Informationen sind rar. «Oft haben meine Eltern, Geschwister und Freunde kein Empfang. Oder über Tage keinen Strom, um ihr Mobiltelefon zu laden, weil alles verbombt wurde», sagt Suher. Eine Nachricht hat sie doch erreicht: Das Haus eines Freundes ging während der Waffenruhe in die Luft. Er sass mit Frau und Tochter beim Abendessen. Beide sind jetzt tot.

Das Wichtigste in Kürze

  • 2013 floh die Familie Serieh mit vier Kindern von Damaskus (SYR) in die Schweiz.
  • Nau berichtet in einer sechsteiligen Serie über das Schicksal der Familie.
  • Teil V: Muslimische Patriarchen und einsame, alte Schweizer.

Die ganze Geschichte der syrischen Flüchtlingsfamilie Serieh

1. Von Damaskus in die Berner Alpen – Die Familie Serie flieht aus Syrien
2. «Schmarotzer, ihr wollt doch nur unser Geld» – Beleidigungen auf dem Pausenplatz
3. «Habt ihr keine Schweizer gefunden?» – Wohnungssuche in der Schweiz
4. «Dürft ihr überhaupt arbeiten?» – (K)eine Zukunft mit Ausweis F
5. Muslimischer Patriarch oder Gentleman? – Schweizerisch-Syrische Differenzen
6. Schuldzuweisung und HeimwehWer trägt die Verantwortung am Krieg? Und wo ist «daheim»?

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