Medikamentenversuche auch in Psychiatrie Baselland
Auch die Psychiatrie Baselland hat in den 1950er- bis 1970er-Jahren nicht zugelassene Medikamente an Patientinnen und Patienten ohne deren Wissen verabreicht. Das hat eine Pilotstudie der Universität Zürich ergeben.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Untersuchung wurde von den Medizinhistorikern Flurin Condrau und Marina Lienhard im Auftrag der Psychiatrie Baselland durchgeführt.
Den Anteil der Betroffenen von Medikamentenversuchen schätzen sie auf fünf bis zehn Prozent aller Patientinnen und Patienten in jenen Jahren, wie Condrau am Freitag vor den Medien in Liestal sagte.
Verabreicht wurden mindestens 16 Präparate, die nicht im Handel waren. Einzelne davon standen allerdings vor der Zulassung, und drei sind heute noch auf dem Markt, wie es weiter hiess. Für Kontakte mit der Pharmaindustrie, von welcher die Medikamente stammten, gab es laut Condrau in den Akten keine Hinweise.
Zu den Ergebnissen gelangte die Studie aufgrund von Stichproben. Aus den etwa 8000 Patientenakten, die das Staatsarchiv Baselland aus damaliger Zeit aufbewahrt, wurde 263 Dossiers aus den Jahren 1953 bis 1972 überprüft. Dabei wurden 28 Akten gefunden, aus denen die Abgaben mindestens eines Präparats ohne Handelsnamen hervorgeht.
Das entspricht rund zehn Prozent aller Patientinnen und Patienten dieser Zeit. Durchschnittlich nur zwei Prozent konnten ermittelt werden, wenn nur die für die Untersuchung zufällig ausgewählten fünf Stichjahre ausgewertet wurden. Die Studie schliesst daraus, dass die Versuche ungleich über die Jahre verteilt waren.
Bei der Zahl der Betroffenen handelt es sich um eine Schätzung. Condrau geht jedoch davon aus, dass auch eine weitergehende Erhebung kaum andere Ergebnisse hervorbringen würde. So ergab bereits eine Untersuchung über Versuche an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich von 2018 eine ähnliche Grössenordnung.
Die Studie in Liestal fand weiter heraus, dass in den untersuchten Fällen doppelt so viele Frauen wie Männer betroffen waren und dass 16 von 28 Patientinnen und Patienten entmündigt waren; bei Schizophrenie war dies damals jedoch üblich, und diese Krankheit war denn auch eine häufige Diagnose in den überprüften Akten.
Condrau unterstrich zudem, dass die Medikamentenabgabe im Kontext der Zeit beurteilt werden müsse. So habe in der Psychiatrie zwischen 1945 und 1970 eine «chemische Revolution» stattgefunden: nachdem früher Behandlungen wie etwa Gehirnchirurgie oder Elektroschocks angewendet worden waren, standen nun Präparate zur Verfügung.
Es habe europaweit eine Begeisterung für die neuen Methoden gegeben, während ethische Regeln für die Forschung vor 1970 kaum formuliert worden seien. Das Interesse an den neuen Behandlungsformen sei in dieser Zeit auch in Baselland gross gewesen, nach 1972 dann jedoch abgeflaut.
Die Grenzen zwischen Versuchs- und Standardpräparaten seien zudem anfänglich fliessend gewesen. Bei gravierenden Nebenwirkungen hätten die Ärzte die Abgabe eingestellt. Ausserdem gab es damals auch bei Therapien mit Standardmedikamenten keine Zustimmung von Betroffenen. Später habe die Psychiatrie indes einen starken Wandel erlebt.
Angestossen worden war die 40'000 Franken teure Studie von Hans-Peter Ulmann, CEO der Psychiatrie Baselland. Sie folgt auf erste Angaben in einer 2017 publizierten Jubiläumsschrift. Anlass gegeben hatten Berichte über Untersuchungen in anderen Schweizer Psychiatriekliniken etwa in Basel, Zürich oder Münsterlingen TG.