«Staatsversagen»? Der politische Fall Wirecard fängt erst an

Der Wirecard-Skandal soll verfilmt werden. Kein Wunder, hat er doch alle Zutaten eines Wirtschaft-Thrillers. Noch aber sind längst nicht alle Fragen beantwortet.

Das Logo von Wirecard an der Fassade des Firmensitzes in Aschheim bei München. Foto: Peter Kneffel/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Bilanzbetrug, Verdacht auf Geldwäsche, ein Ex-Geheimdienstkoordinator und ein früherer Minister als Lobbyisten sowie offene Fragen zu einer Reise der Kanzlerin: Die Dimension des Wirecard-Skandals wird immer grösser - und die politische Aufarbeitung fängt gerade erst an.

Ein Untersuchungsausschuss wird wahrscheinlicher. Viele Fragen sind offen - eine Kernfrage ist: Wurde Wirecard als deutsches Fintech-Unternehmen und aufstrebender Börsenstar trotz Hinweisen auf Unregelmässigkeiten von Aufsichtsbehörden mit Samthandschuhen angefasst?

Der Schaden ist bereits jetzt gross. Tausende Anleger sind geprellt worden, weil der Aktienkurs des früheren Dax-Konzerns ins Bodenlose stürzte. Die Bundesregierung sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, nur scheibchenweise zur Aufklärung beizutragen.

Im Juni hatte der inzwischen insolvente Zahlungsdienstleister Luftbuchungen von 1,9 Milliarden Euro eingeräumt. Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Wirecard seit 2015 Scheingewinne auswies, und ermittelt wegen gewerbsmässigen Bandenbetrugs. Der Schaden für die kreditgebenden Banken und Investoren könnte sich auf 3,2 Milliarden Euro summieren. Zentrale Fragen bei der politischen Aufarbeitung sind, wann genau die Bundesregierung von Unregelmässigkeiten wusste und ob sie zu wenig dagegen unternommen hat.

Der FDP-Politiker Florian Toncar sprach am Montag von einem «multiplen Staatsversagen» auf verschiedenen Ebenen. So habe die Finanzaufsicht Bafin trotz klarer Hinweise auf Unregelmässigkeiten nötige Schritte nicht ergriffen. Ausserdem sei Verdachtsmeldungen auf Geldwäsche vor der Wirecard-Insolvenz nur ungenügend nachgegangen worden.

Nach der Sondersitzung am Dienstag, in der auch Bafin-Chef Felix Hufeld erwartet wird, wird sich entscheiden, ob die Opposition das «scharfe Schwert» eines Untersuchungsausschusses zieht. Dieser hätte Akteneinsicht und könnte Zeugen vernehmen - hätte allerdings wenig Zeit für eine umfassende Aufklärung, weil im kommenden Herbst gewählt wird.

FDP und Linke wollen einen U-Ausschuss - sie wollen ihn allerdings nicht zusammen mit der AfD beschliessen. So hängt nun alles an den Grünen, die zunächst die Sondersitzungen des Finanzausschusses abwarten wollten. Der Grünen-Politiker Danyal Bayaz aber machte am Montag deutlich, die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass ein Untersuchungsausschuss kommt. Zusammen kämen FDP, Linke und Grüne auf das erforderliche Quorum von einem Viertel der Abgeordneten.

Ein Untersuchungsausschuss könnte dann bereits in der kommenden Woche vom Parlament eingesetzt werden, die Zeugenliste könnte es in sich haben: Neben SPD-Kanzlerkandidat und Finanzminister Olaf Scholz sowie Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) könnte auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) geladen werden.

Am Montag nahmen Oppositionspolitiker vor allem das Kanzleramt ins Visier, Vertreter der Regierungszentrale wurden im Ausschuss befragt. Es ging vor allem darum, dass Merkel bei einer China-Reise im September 2019 für den Markteintritt von Wirecard in China geworben hatte. Die Kanzlerin hatte betont, es sei Usus, dass man bei Auslandsreisen die Anliegen deutscher Unternehmen anspreche. Unregelmässigkeiten bei Wirecard seien ihr damals nicht bekannt gewesen.

Im Herbst 2019 aber gab es längst kritische Berichte vor allem der «Financial Times» zu Unregelmässigkeiten bei Wirecard. Unionsabgeordnete zeigten am Montag mit dem Finger auf das SPD-geführte Finanzministerium sowie die Bafin - diese hätten «Warnhinweise» zu Wirecard nicht ans Kanzleramt weitergegeben.

Die SPD wiederum versuchte den Fokus auf das Kanzleramt zu lenken. Die SPD-Politikerin Cansel Kiziltepe sagte, der «Wirecard-Lobbyismus» im Kanzleramt sei erschreckend. Hintergrund: Der Ex-Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Klaus-Dieter Fritsche, sowie der frühere Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) hatten Lobbyarbeit für Wirecard betrieben.

Es sei «erschreckend», wie blauäugig im Bundeskanzleramt mit dem Thema Lobbyismus umgegangen werde, sagte die Grünen-Abgeordnete Lisa Paus. Wenn man in Deutschland die Unterstützung der Bundesregierung haben wolle, dann müsse man sich offenbar an ehemalige Minister oder Staatssekretäre wenden - und bekomme dann einen «Freifahrtschein» für Termine sogar mit der Kanzlerin.

Und dann ist da noch der flüchtige Ex-Vertriebsvorstand von Wirecard, Jan Marsalek, der eine Schlüsselrolle in dem Skandal spielen soll. Wie das «Handelsblatt» unter Berufung auf Bekannte Marsaleks berichtete, befindet er sich auf einem Anwesen nahe Moskau. Dort stehe er unter Aufsicht des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR.

Die Bundesregierung schreibt in einer Antwort auf eine Anfrage des Linken-Politikers Fabio De Masi, ihr sei der aktuelle Aufenthaltsort von Marsalek nicht bekannt. Die Frage einer Auslieferung Marsaleks im Rahmen des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens falle in die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte.

Neben der strafrechtlichen Aufarbeitung spricht nach der Sondersitzung des Finanzausschusses vieles dafür, dass ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss kommt. Der Linke-Politiker De Masi jedenfalls ist sich da ziemlich sicher. Er habe einen Rotwein gewettet, dass die Grünen einem U-Ausschuss zustimmen, sagte er vor Beginn der Sitzung.