EU-Sanktionen gegen Belarus, Drohungen gegen die Türkei
Im Wettbewerb mit den USA und China ringt die EU um ihre Position. Dass das mitunter ganz schön mühsam ist, zeigt der jüngste Gipfel in Brüssel.
Das Wichtigste in Kürze
- Unabhängiger, stärker, einflussreicher - so will EU-Ratschef Charles Michel die Europäische Union in der Welt positionieren.
Beim Sondergipfel in Brüssel skizzierten die Staats- und Regierungschefs, wie das gelingen soll. Der Streit über die Sanktionen gegen Belarus und eine gemeinsame Linie gegenüber der Türkei stellte die hohen Ansprüche sogleich auf die Probe.
Eigentlich hatten die Staats- und Regierungschefs der EU sich schon Mitte August grundsätzlich darauf geeinigt, Unterstützer des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko zu sanktionieren. Das kleine EU-Land Zypern blockierte die Umsetzung jedoch wegen des Konflikts um Erdgaserkundungen im östlichen Mittelmeer. Nikosia forderte zugleich Sanktionen gegen Ankara. In der Nacht zum Freitag zog Zypern sein Veto gegen die Belarus-Strafmassnahmen schliesslich zurück und erhielt dafür Zugeständnisse in seinem Kampf für eine harte Türkei-Politik. Die Sanktionsentscheidung sei «wichtig, aber auch überfällig» gewesen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Abschluss des EU-Gipfels. Die Strafmassnahmen traten bereits am Freitag in Kraft.
Ihre Sanktionsdrohungen gegen Ankara im Erdgasstreit hält die EU aufrecht. Spätestens beim Gipfel im Dezember soll erneut über die Lage gesprochen und entschieden werden, wie es weiter geht. Gleichwohl stellt die EU Ankara eine Erweiterung der Zollunion, Handelserleichterungen und weitere Milliardenhilfe für die Versorgung von Flüchtlingen aus Ländern wie Syrien in Aussicht. Voraussetzung ist laut dem Gipfelbeschluss, dass «die konstruktiven Bemühungen zur Beendigung der illegalen Aktivitäten gegenüber Griechenland und Zypern fortgesetzt werden». Damit reagieren die EU-Staaten darauf, dass es zwar im Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland zuletzt Entspannung gab, nicht aber im Streit zwischen der Türkei und Zypern.
Griechenland und Zypern verlangen wegen der Erdgaserkundungen der Türkei seit langem eine stärkere Unterstützung der EU-Partner. Sie sind der Ansicht, dass sie in ihren Seegebieten erfolgen und damit illegal sind. Die Türkei weist die Vorwürfe zurück.
Die Belarus-Sanktionen sollen zunächst 40 Personen, denen eine Beteiligung an Wahlfälschungen oder der gewaltsamen Niederschlagung von friedlichen Protesten vorgeworfen wird, treffen. Sie werden mit Einreiseverboten und Vermögenssperren belegt. Lukaschenko selbst wird zunächst nicht darunter sein. Grund ist vor allem, dass dies die diplomatischen Bemühungen zur Beilegung des Konflikts erschweren könnte. Minsk reagierte prompt - und erwiderte die Schritte der EU seinerseits mit einer Liste von Personen, denen die Einreise verweigert wird. Die EU-Nachbarländer Polen und Litauen müssen Dutzende Mitarbeiter aus ihren Botschaften in Minsk abziehen. Zudem wurden alle Akkreditierungen von Auslandskorrespondenten annulliert.
Ein Gipfel mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Leipzig sollte der Höhepunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft werden. Dann kam die Corona-Pandemie, und das für September geplante Treffen wurde abgesagt. Jetzt will die EU stattdessen auf einem Sondergipfel über China statt mit China reden. Die Staats- und Regierungschefs wollen sich am 16. November in Berlin treffen, allerdings ohne Xi. Dabei soll es vor allem um das Investitionsabkommen gehen, das bis zum Jahresende abgeschlossen werden soll - und um den Klimaschutz.
Spätestens die Corona-Krise hat gezeigt, dass die EU in einigen Wirtschaftsbereichen zu abhängig von anderen Weltregionen ist. Wegen unterbrochener Lieferketten kamen Medikamente oder Ausrüstung nicht an, wichtige Güter wurden knapp. Deshalb will die EU eigenständiger werden - ihr Bekenntnis zum offenen Markt aber nicht aufgeben. Wie viel Autonomie ist gut, und wann wird daraus Abschottung gegenüber Wettbewerbern wie China und den USA?
Vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron treibt die sogenannte strategische Autonomie voran. «Wir können kein Markt sein, der nicht strategisch denkt und der auf gewisse Weise der einzige Markt ist, der nur an seine Verbraucher denkt, aber nicht daran, seine Bürger und Produzenten zu schützen um Autonomie aufzubauen», sagte er beim EU-Gipfel. Allerdings legen nicht alle den Schwerpunkt so sehr auf die Autonomie: Liberale Staaten wie die Niederlande oder die skandinavischen Länder warnen vor neuem Protektionismus.
In der Gipfelerklärung heisst es nun: «Das Erreichen strategischer Autonomie bei gleichzeitiger Wahrung einer offenen Wirtschaft ist ein zentrales Ziel der Union.»
Unabhängiger will die EU auch im Digitalen werden. Hier geben bislang die grossen US-Konzerne den Ton an. Doch Europa will eigene Standards setzen, Entwicklungen beeinflussen und weniger auf die USA angewiesen sein. Dazu sollen mindestens 20 Prozent des geplanten Corona-Aufbauprogramms ins Digitale fliessen - mehr als 100 Milliarden Euro. Werte, Grundrechte und Sicherheit müssten gewahrt bleiben, heisst es im Abschlusstext. Ein solch «menschenzentrierter Ansatz» steigere die Attraktivität des europäischen Modells.
Konkret sollen etwa vertrauenswürdige und sichere Clouds geschaffen werden. Europäische Daten sollen auch in Europa gespeichert und verarbeitet werden. Derzeit blieben 80 Prozent der industriellen Daten ungenutzt, sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Künftig sollen Forscher und Unternehmen besseren Zugang bekommen. Die Kommission wird aufgerufen, bis März 2021 einen «umfassenden Digital-Kompass» mit Ambitionen bis 2030 vorzulegen. Und auch ein einheitliches europäisches System zur elektronischen Identifizierung - genannt e-ID - gehört zu den Zielen.
Die EU verurteilte die Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny. In der Abschlusserklärung heisst es: «Der Gebrauch einer chemischen Waffe stellt einen ernstzunehmenden Bruch internationalen Rechts dar.» Am 15. und 16. Oktober wollen sich die Staats- und Regierungschefs erneut mit dem Thema befassen. Dann könnte es auch um eine gemeinsame Reaktion der 27 EU-Partner gehen. Merkel bekräftigte am Freitag aber, dass zunächst die Organisation für das Verbot chemischer Waffen ihre Untersuchungen dazu abschliessen müsse.