Stadt Zürich

Osterpredigt für Atheisten

Reda El Arbi
Reda El Arbi

Zürich,

Unser Gastautor denkt, dass religiöse Menschen besser auf die Pandemie vorbereitet sind.

Reda El Arbi
Gastautor bei Nau.ch: Reda El Arbi. - Nau.ch

Das Wichtigste in Kürze

  • Nau.ch-Kolumnist Reda El Arbi erklärt die linksgrünversiffte Welt.
  • Reda El Arbi erlangte als Blogger beim «Tagesanzeiger» Bekanntheit.
  • Bis 2011 war er Chefredaktor des Satiremagazins «Hauptstadt».
  • Er lebt mit Frau und Hund in Stein am Rhein SH.

Man hört ja immer wieder viele dumme Witze von Atheisten über Religiöse. Aber zurzeit sind die Menschen, die sich in den klassischen monotheistischen Religionen wohlfühlen, etwas im Vorteil.

Fastenzeit oder Ramadan - die meisten grossen Religionen haben eine Zeit des Verzichts, eine bewusste Übung, nicht alles zur Verfügung zu haben, was man sonst dauernd so konsumiert. Die Religionen haben das Jahr mit Pausen der Besinnlichkeit und der Selbstreflexion aufgeteilt. Und man kann über Religionen sagen, was man will, aber die Sache mit den menschlichen, spirituellen Bedürfnissen haben sie schon immer ziemlich gut drauf gehabt.

Nun, durch die Pandemie, sind auch wir Atheisten gezwungen, auf unseren gewohnten Lebensstil zu verzichten, eine Zwangspause einzulegen und - Oh Gott! - auf Dinge zu verzichten!

coronavirus
Shopping verlagert sich während der Corona-Krise ins Internet. - Pixabay

Die übliche Reaktion auf erzwungenen Verzicht ist Kompensation. Wenn wir unsere Sinne nicht mit dem üblichen Kram zudecken können, bestellen wir im Internet halt eben anderen Kram. Wir schauen Netflix bis zur Augenentzündung, benutzen neue Apps, um virtuelle Partys zu feiern, wir kochen uns den Gaumen wund. Oder wir geben uns mit Pandemie-News die Kante, um uns dann intensiv online mit anderen darüber zu streiten, wer wie was hätte besser machen können. Methadon, um den geschäftigen Alltag zu substituieren.

Als ehemaliger katholischer Messdiener kann ich mich erinnern, dass diese ganze Fastensache sich nicht um Verzicht per se dreht, sondern dass es um Besinnung aufs Wesentliche geht. Also nicht darum, was mir fehlt (WC-Papier, Pasta, Fertigpizzen und Live-DJs an Parties), sondern um den Fokus darauf zu richten, was wir haben, wie reich unser Leben ist (oder sein könnte, wenn wir es bemerken). Was wirklich zählt. Und darum, daraus Dankbarkeit und Demut zu entwickeln. Eine religiöse Übung, die ich noch heute, als Gottloser, ziemlich gut nachvollziehen kann.

Diese Pandemie hat aber noch einen besonderen Effekt: Wir werden mit der Sterblichkeit konfrontiert. Selbst Grosskotze wie ich denken über ihr eigenes Abnippeln nach, wenn sie davon lesen, dass es jetzt einen 50-Jährigen getroffen hat. Kaum aushaltbar für Menschen mit Empathie sind die gestapelten Särge in Italien, oder die Massengräber in New York.

hart island massengrab
Särge türmen sich auf Hart Island, dem grössten Massengrab Amerikas. - keystone

Jeder, der seine Midlife-Crisis bereits hinter sich hat, muss sich nun mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen, sich an den Gedanken gewöhnen, dass auch er oder sie bald zur Gefahrengruppe gehört. Und dass dieses Virus nicht so schnell verschwinden wird. Zudem sorgt man sich um seine Eltern, Schwiegereltern, seine Liebsten mit Vorerkrankung.

Wenn man dann nach vier Wochen Netflix leergeschaut hat, alle Rezepte nachgekocht, an jeder Sozial-Media-Challenge mitgemacht und den 1000. Whatsapp-Apéro getrunken hat, reicht die Ablenkung nicht mehr. Man macht sich Gedanken um die eigene Sterblichkeit. Bei jedem kleinen Husten.

Natürlich gibts auch die Leute, die denken, das gehe nur andere an. Die nicht den möglichen Tod sehen, sondern nur Zahlen. Aber auch denen kann ich sagen: Es trifft auch dich. In Zahlen: Zu 100 Prozent in den nächsten 80 Jahren.

Wo Religiöse den Vorteil haben, dass es für sie nach dem Tod irgendwie weitergeht, wenn sie den richtigen Deal eingehen (Himmel, Hölle, Wiedergeburt), ist es für uns Atheisten auch hier schwieriger.

Zack, fertig. Würmer und zurück in den Kreislauf der Natur.

tiger king
Joe Exotic ist der Protagonist der Netflix-Serie «Tiger King: Murder, Mayhem and Madness». - Dpa

Wir könnten also diese Zeit des totalen Unterbruchs dazu nutzen, uns zu fragen, was wir mit unserem Leben anfangen. Atheisten haben nur einen Wurf. Es gibt keine Entschuldigung, keinen zweiten Versuch, kein Alterssitz im nächsten Leben. Wir müssen es in diesem Leben richtig hinkriegen, wenn wir nicht in den letzten Minuten vor dem Tod, wenn unser ganzes Leben an uns vorbeizieht, «Shit!» denken wollen.

Wir könnten uns ja ein paar Minuten nehmen, um uns darauf zu besinnen, wie wir die uns verbleibende Zeit auf diesem ächzenden Planeten nutzen wollen. Wir müssen dazu keine Gutmenschen werden. Es reicht, wenn wir uns bemühen, heute ein besserer Mensch als gestern zu sein.

In diesem Sinne: Nehmen Sie sich ein paar Minuten, denken Sie darüber nach, wofür Sie dankbar sind, und ob Sie den Menschen mögen, den Sie im Spiegel sehen. Und was Sie sich von ihm für die Zukunft wünschen würden.

Schöne Ostern!

Zum Autor: Reda El Arbi ist 50-jährig, kommt aus Zürich und zog vor einigen Jahren nach Stein am Rhein. Grosse Bekanntheit erlangte er mit seinem Zürcher «Stadtblog» für den «Tagesanzeiger». El Arbi schreibt unverblümt, hat zu allem eine Meinung und polarisiert auch gern. Er ist verheiratet und lebt mit Frau und Hund in Stein am Rhein SH.

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