Hungerkrise in Afghanistan: Aus Not die Tochter verkauft
In Afghanistan herrscht bittere Armut. Familien sind deshalb dazu gezwungen, ihre Kinder zu verkaufen. Für sie die einzige Chance, um zu überleben.
Das Wichtigste in Kürze
- In Afghanistan herrscht noch immer akuter Hunger.
- 19,7 Millionen Menschen, davon 9,6 Million Kinder, müssen täglich Hunger leiden.
- Um zu überleben, greifen Eltern zu drastischen Massnahmen: Sie verkaufen ihre Töchter.
Frieden, eine gute Schulbildung, nahrhafte Mahlzeiten und die Chance, die eigenen Träume zu realisieren: Was für viele Kinder normal ist, ist für Millionen von Kindern und Jugendlichen in Afghanistan in weite Ferne gerückt.
9,6 Millionen Kinder in Afghanistan müssen täglich Hunger leiden. Dies zeigen neue Zahlen aus der anfangs Mai veröffentlichten «Integrated Food Security Phase Classification»-Analyse (IPC) zur akuten Ernährungsunsicherheit in Afghanistan.
Die humanitäre Katastrophe, die Afghanistan schon seit Jahren beherrscht und die sich seit der Übernahme Kabuls durch die Taliban im August noch verschlimmert hat, hat einen grossen Teil der Bevölkerung in die Armut gestürzt – und damit in die Hungerkrise.
Fast jeder Zweite hat zu wenig zu Essen. Insgesamt sind es laut Zahlen des IPC-Berichts 19,7 Millionen Menschen.
Dies zwingt die Ärmsten der Armen zu drastischen Handlungen: Das internationale Kinderhilfswerk World Vision berichtet, dass Familien sich dazu gezwungen sehen, ihre Kinder zu verkaufen, um sie zu verheiraten. Für sie die einzige Chance, um zu überleben.
Die Tochter verkauft, um nicht zu verhungern
So erging es auch Aziz Gul aus Herat im westlichen Afghanistan. Ihr Ehemann verkaufte die 10-jährige Tochter, Qandi Gul, in die Ehe mit einem älteren Mann, ohne es seiner Frau mitzuteilen. Er nahm eine Anzahlung an, um damit seine Familie mit fünf Kindern zu ernähren.
Ohne dieses Geld, so sagte er ihr später, wären sie alle verhungert. Er musste eines der Kinder opfern, um die anderen zu retten. So schildert es Aziz Gul der Associated Press Reporterin Elena Becatoros vor Ort.
Verkaufte Kinder bleiben in der Regel bei den eigenen Eltern, bis sie mindestens 15 Jahre alt sind. Da sich viele jedoch nicht einmal mehr Grundnahrungsmittel leisten können, müssen einige Familien ihre 8- oder 9-jährigen Töchter dem Bräutigam sofort mitgeben, so Becatoros. Denn somit ist zuhause ein Kind weniger durchzubringen – und für die verkaufte Tochter wird in der neuen Familie gesorgt.
Kinderheirat ist in Afghanistan eigentlich laut Verfassung verboten. Dennoch ist sie weit verbreitet – bereits vor der Machtübernahme der Taliban.
Laut Schätzungen wurden landesweit mindestens 28 Prozent der afghanischen Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, schreibt World Vision. Im Zuge der aktuellen Krise wird diese Zahl vermutlich weiter zunehmen.
Überleben nur dank Lebensmittelhilfe
Die Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Und obwohl das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) in Afghanistan das grösste Ernährungsprogramm der Welt durchführt, hält der Hunger im ganzen Land in einem noch nie dagewesenen Ausmass an, betont die WFP-Expertin Anthea Webb.
Das Hilfswerk World Vision, offizieller Partner des WFP-Programms, hat deshalb zusätzlich zur Nahrungsmittelverteilung einen Nothilfefonds eingerichtet. Damit werden Familien unterstützt, um ihre Kinder nicht mehr verkaufen zu müssen, erklärt Asuntha Charles, nationale Direktorin von World Vision in Afghanistan.
«Es bricht mir das Herz, zu sehen, dass die Familien bereit sind, ihre Kinder zu verkaufen, um andere Familienmitglieder zu ernähren», berichtet sie.
Finanzielle Mittel für humanitäre Hilfe werden deshalb dringen benötigt, um die Menschen vor dem Hungertod zu bewahren – und die Mädchen vor Kinderheirat zu schützen.
Wie World Vision den Menschen in Afghanistan hilft, erfahren Sie hier.