Revitalisierte Aire: Kandidatin für Landschaftspreis des Europarats

Der Bundesrat
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Bern,

Das Bundesamt für Umwelt BAFU veröffentlicht am 31. Januar 2019 ein neues Dossier.

Eine Brücke über dem Fluss. (Symbolbild)
Eine Brücke über dem Fluss. (Symbolbild) - Nau.ch

Erstmals nimmt die Schweiz mit der Revitalisierung des Flüsschens Aire am Landschaftspreis des Europarats teil. Das Projekt ist nicht nur ein heute wertvolles Biotop für Pflanzen und Tiere und ein geschätzter Erholungsraum für Menschen. Es ist auch – dank der Bewahrung des Kanals – ein Ort der Kulturgeschichte und ein gelungenes Beispiel für die Zusammenarbeit eines multidisziplinär aufgestellten Teams.

Kanalisiert oder renaturiert – oder gar beides? Beim Flüsschen Aire, das in Frankreich am Fuss des Mont-Salève entspringt, das «Genfer Becken» durchfliesst und schliesslich auf Genfer Stadtgebiet in die Arve mündet, wurde mit der Renaturierung die einstige Kanalisierung nicht einfach rückgängig gemacht, sondern als kulturgeschichtlicher Eingriff des Menschen stehen gelassen. Es entstand ein gutes Beispiel für die Erhaltung einer Kulturlandschaft, die Bedürfnisse Erholungssuchender genauso erfüllt wie ökologische Anforderungen. Das Projekt «Revitalisation de la Rivière Aire» gibt die Schweiz nun erstmals für den europäischen Wettbewerb ein.

Mit der Preisvergabe will der Europarat die Aufmerksamkeit der Zivilbevölkerung auf den Wert von Landschaften lenken und das Bewusstsein für deren Rolle und die sie betreffenden Veränderungen stärken. Der Landschaftspreis wird seit 2009 alle zwei Jahre vergeben, im April 2019 zum siebten Mal. Zu den früheren Preisträgern zählen der Parc de la Deûle in Lille (2009), die Inwertsetzung der ehemaligen Bergbaulandschaft Carbonia auf Sardinien (2011) oder der Erhalt des ökologischen Wertes des polnischen Szprotawa-Tals (2013).

Das von der Schweiz portierte Projekt wurde von einer Jury mit Vertreterinnen und Vertretern aus Praxis, Forschung und Verwaltung gekürt. Zur Diskussion standen sechs Eingaben, die in den vergangenen Jahren eine schweizweit relevante Auszeichnung erhalten hatten.

Menschliche Eingriffe und ihre Folgen

Die Kanalisierung des Flüsschens Aire ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert galt lange als ingenieurtechnischer Erfolg: Der Wasserlauf war auf einer Strecke von fünf Kilometern gezähmt, die Gefahr von Überflutungen gebannt, und das ehemalige Sumpfgebiet stand fortan den Landwirten als fruchtbares Ackerland zur Verfügung. Die tiefgreifenden Änderungen, die der Eingriff für das Landschaftsbild und für die entlang des vormals mäandrierenden Wasserlaufs beheimateten Tiere und Pflanzen bedeutete, spielten damals eine untergeordnete Rolle.

In der jüngeren Vergangenheit jedoch wandelte sich das Naturverständnis: Die Einsicht, dass sich die Natur nur bis zu einem gewissen Grad kontrollieren lässt, führte zur Forderung, Flüssen wieder mehr Raum zu geben und so natürliche Abläufe und die Wechselwirkungen der Biodiversität zu stärken.

Bereits 1998 – also noch bevor der Bund mit dem revidierten Gewässerschutzgesetz 2011 die Kantone dazu aufforderte, ihre Wasserläufe zu revitalisieren – initiierte der Kanton Genf ein Renaturierungsprogramm, mit dem er gleich mehrere Ziele verfolgte: Mehr Platz für die Gewässer sollte einerseits den Schutz der Anrainer vor Hochwasser garantieren, andererseits die Flüsse wieder zum wertvollen Lebensraum aufwerten und gleichzeitig der Bevölkerung den Zugang zu einem Erholungsraum ermöglichen. 2000 schrieb der Kanton einen Studienauftrag zur Revitalisierung der Aire aus.

Das Team Superpositions, ein interdisziplinärer Zusammenschluss von Gestaltern, Biologen und Hydrologen sowie Bau- und Umweltingenieuren überzeugte mit einem differenzierten Projekt: Die Flusslandschaft sollte nicht in ihren natürlichen Zustand zurückversetzt werden. Ganz im Gegenteil wollten die Projektverfasser die Spuren, die der Mensch in den letzten Jahrzehnten hinterlassen hatte, erhalten. Ab 2002 wurde das Projekt in drei Etappen realisiert. Eine vierte Etappe, deren Umsetzung bis 2022 geplant ist, sieht die Aufwertung der Aire vom Dorf Certoux bis zur französischen Grenze vor.

Eine vielfältige Landschaft

Heute sind die Ufer der revitalisierten Aire ein beliebtes Naherholungsgebiet und gleichzeitig wertvoller Lebensraum für wasserliebende Pflanzen und Tiere. Die Landschaft wird nicht mehr von einem betonierten Kanal durchschnitten, sondern präsentiert sich vielfältig: Das Flüsschen sucht sich – je nach Wasserstand träge oder in schnellem Fluss – seinen Lauf in einem vorgegebenen neuen Flussbett und bietet einer Vielzahl von Arten wichtigen Lebensraum.

Der ehemalige Kanal blieb als Erinnerung an die jüngsten Eingriffe erhalten: Abschnittsweise aufgeschüttet steht er mit Pergolen, Picknickplätzen und Stufen, die ans Wasser führen, Erholungssuchenden als attraktive Promenade und praktische Langsamverkehrs-Verbindung zur Verfügung. Dadurch, dass die Projektverfasser die Landschaft als Überlagerung – eben: superposition – unterschiedlicher Zeitschichten lasen, entstand ein Hybrid aus Natur und Artifiziellem, der die vielfältige Geschichte des Ortes erlebbar macht.

Wertvoll ist nicht nur das Ergebnis, sondern auch das Vorgehen: Das Projekt entstand in intensivem Dialog mit Anwohnern, Landwirten, Umweltorganisationen und Vertretern aus Kanton und Gemeinden. Die Partizipation unterschiedlicher Akteure führte zu einem Vorhaben, das auf grosse Resonanz stiess und viel Zustimmung erfuhr.

Natur und Gestaltung im Einklang

Das Projekt, das in den letzten Jahren sowohl in der Schweiz als auch im Ausland eine Reihe von Auszeichnungen erhielt – beispielsweise 2012 den vom Schweizer Heimatschutz vergebenen «Schulthess Gartenpreis» oder 2018 den «Landezine International Landscape Award» – punktete auch bei der Jury, die den Schweizer Kandidaten für den Landschaftspreis auswählte: Es leiste einen zukunftsweisenden Beitrag zur Landschaftsentwicklung und überzeuge durch sein stimmiges Nebeneinander von Erholung und Ökologie.

Nicht zuletzt gibt es laut dem Gremium eine Antwort auf die aktuelle Frage, wie sich Landschaften im Einzugsgebiet sich verdichtender Siedlungsräume entwickeln sollen.

Projektauswahl

Auf der Shortlist der Schweizer Nominierung für den Landschaftspreis des Europarats befanden sich neben dem Siegerprojekt die Bestrebungen des Bergell für die Förderung von Baukultur und Kulturlandschaften (Wakkerpreis 2015), die Freiburger Sakrallandschaft (Landschaft des Jahres 2018), die Projekte zur Förderung des Valle di Muggio (Landschaft des Jahres 2014), der Murg-Auen-Park in Frauenfeld (Schulthess Gartenpreis 2017) sowie die Projekte zur Inwertsetzung der Erholungs- und Grünräume in Uster (Schulthess Gartenpreis 2014).

Während die Projekte im Bergell, im Freiburger Hinterland und im Valle di Muggio ihren Fokus auf den Erhalt des landschaftlichen und baukulturellen Erbes legen, befassen sich die Projekte in Frauenfeld, Uster und im Genfer Hinterland mit der Freiraumgestaltung in der Agglomeration.

Angesichts der hohen Bedeutung des zweiten Themenkreises für die Weiterentwicklung landschaftlicher Qualitäten in der Agglomeration fiel die Wahl der Jury auf das Genfer Projekt, das in vorbildlicher Weise eine Antwort auf die Frage nach der Entwicklung einer Alltagslandschaft gibt.

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