Sommerserie: Wenn «Ärzte ohne Grenzen» an die Grenzen gehen
Was bedeutet es, an die Grenzen zu gehen? Was überhaupt ist eine Grenze? Das hat die Medienschule St. Gallen in einer Sommerserie für Nau.ch ausgelotet.
Das Wichtigste in Kürze
- Dieser Artikel ist Teil der Sommerserie «An die Grenzen gehen».
- Für Nau realisiert haben diese Serie die Schüler der Medienschule St. Gallen.
Sie werden bewundert für ihre Einsätze in Kriegs- und
Krisengebieten. Die Mitarbeitenden der Non Profit-Organisation „Médecins Sans
Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF)“. Sie leisten dabei Einsätze, die von ihnen
alles abverlangen. Vier Mitarbeitende von MSF erzählen in einem Interview mit
Anaïs Ludolph, MSF, mit welchen Extremsituationen sie konfrontiert werden und
wie sie damit umgehen.
Aufgenommen und übersetzt von Daniela
Gaiotto, Medienschule St. Gallen
«Jungen Flüchtlingen den Zugang zu psychologischer Unterstützung ermöglichen»
Es war im Irak 2012, im Flüchtlingslager Domiz. Im Gegensatz zu dem, was
man allgemein erwarten würde, sind es in solch extremen Situationen oft auch die
jungen, alleinstehenden Männer, die am schutzbedürftigsten sind. Das habe ich
in Domiz beobachtet, wo ich vor der Herausforderung stand, diesen Männern zu
helfen.
In einem ersten Schritt stellte ich einen männlichen Übersetzer an. In
einem zweiten Schritt verbrachte ich einfach nur Zeit mit ihnen, und sprach sie
nicht direkt auf ihre psychische Verfassung an.
Schliesslich waren sie es, die auf uns zukamen. Sie wussten, dass wir da
waren, um ihnen zuzuhören und ihnen zu helfen. Sie fühlten sich wieder umsorgt
und als Menschen wahrgenommen. Heute engagieren sich viele von ihnen selber in
Flüchtlingslagern für die psychische Gesundheit der Menschen dort.
«In einem Kriegsgebiet als Arzt zu arbeiten, erfordert spezifisches Training»
2011, Libyen. Egal wie tief und wie gefährlich die Wunden unserer Patienten
im Kriegsgebiet sind: Das Ziel ist immer, ihr Leben zu retten. Bevor man sich
auf die Wunde konzentriert, muss man schauen, ob der Patient atmet, ob sein
Kreislauf stabil ist und wieviel Blut er verloren hat.
Die Medizin in einem
Kriegsgebiet ist nicht vergleichbar mit der Arbeit unter normalen Umständen.
Die Bedingungen in Libyen waren extrem, und meine medizinischen Mitarbeiter
waren nicht richtig darauf vorbereitet. Fünf von ihnen waren immer noch in der
Ausbildung. Ich führte eine Woche lang ein intensives Training mit ihnen durch.
Der Erfolg zeigte sich, als unser Team von sieben Ärzten gleichzeitig fünf
Patienten in kritischem Zustand behandelte.
«Wenn sogar Patienten im Spital mit anpacken»
Nach dem Erdbeben in Haiti, 2010. Überall herrschte
Unsicherheit. Das MSF-Spital Léogâne war bereits überfüllt. Eines Nachts gab es
einen Busunfall, bei dem 30 Menschen getötet und 150 verletzt wurden. Die
Anzahl der Verletzten, die ins Spital kamen, überstieg die Kapazität bei
weitem. Es herrschte pures Chaos.
Wir funktionierten kurzerhand das Spital-Parking in ein
Flüchtlingslager um und taten alles, was in unserer Macht stand, um die
Verletzten zu versorgen. Dann passierte etwas Unglaubliches: Patienten, die
ihre Behandlung bereits erhalten hatten, verliessen ihre Betten und begannen
uns zu helfen. Teamgeist und menschliches Mitgefühl können manchmal Wunder
bewirken.
«Lernen mit traumatischen Erlebnissen umzugehen, ist
überlebenswichtig»
2014, Guinea, Ebola-Ausbruch in Westafrika. Ich kam mit
dem ersten Team an, um ein Ebola-Behandlungszentrum einzurichten. Wir mussten
sowohl mit Ebola infizierte Patienten in die Isolierstation überführen, wie
auch sichere Begräbnisse für die Verstorbenen durchführen.
Als
Logistik-Koordinator habe ich unter anderem die Leichen vor der Übergabe an
ihre Familien jeweils dekontaminiert. Dieser Prozess dauerte oft mehr als eine
halbe Stunde – Zeit, die du mit dem Toten alleine verbringst. Das war ein
traumatisches Erlebnis, und ich musste damit zurechtkommen. Nach solchen
Erlebnissen ist es überlebenswichtig, dass man physisch und psychisch Distanz findet.
Wenn ich heute von einem Einsatz zurückkomme, versuche
ich mich mehr darauf zu konzentrieren wo ich bin, als wo ich war. Das
ermöglicht es mir weiterzumachen und traumatische Erlebnisse zu verkraften.