Bei «Girl» wird aus einem Buben eine Ballerina
In seinem Erstling «Girl» erzählt Regisseur Lukas Dohnt eine Geschichte, so zart, kraftvoll und schmerzhaft wie der Spitzentanz einer Ballerina.
Das Wichtigste in Kürze
- In seinem Erstling «Girl» erzählt Lukas Dohnt die Geschichte eines Transgender-Teenagers.
- Die 15-jährige Lara (Victor Polster) will Ballerina werden – und endlich wirklich Frau.
- Das ein Mann die Rolle der Transfrau übernahm, kam allerdings nicht überall gut an.
Lara ist neu. Neu in einer fremden Stadt. Neu kein Kind mehr, neu ein Teenager. Neu ein bisschen interessiert an Jungs. Neu an der Schule für angehende Ballettänzerinnen und Ballettänzer.
«Ist es für euch in Ordnung, wenn Lara sich bei euch umzieht», fragt der Lehrer die 15-jährigen Mädchen. Wer sich daran stört, dass die Neue ihre Ballettschuhe auf der gleichen Bank schnürt, darf die Hand hochstrecken. Lara hat während dem bizarren Prozedere die Augen geschlossen. Sie soll nicht sehen, wer sich an ihr stört. Niemand tut es. Warum auch?
Lara ist neu Lara. Davor war sie ein Junge. Nun soll aus dem Buben eine Ballettänzerin werden. Eine junge Frau. Denn gerade ist dieser eine Fakt das einzig Alte in Laras Leben: Sie ist transgender. Die Seele jene einer Frau, der Körper der eines Buben. Hormone verhindern, dass Lara zum Mann wird.
Heile Oberfläche, blutiger Kern
In seinem Erstling «Girl» erzählt der 27-jährige, flämische Regisseur Lukas Dohnt eine Geschichte, so zart, kraftvoll und schmerzhaft wie der Spitzentanz einer Ballerina.
Wie die glänzenden Seidenbänder der Ballettschuhe, scheint auch Laras Familie auf den ersten Blick heil. Es fehlt die Mutter, umso herzlicher und verständnisvoller aber ist Papa Mathias (Arieh Worthalter) und die ganze Verwandtschaft. Zumindest in den Augen von Laras kleinem Bruder Milo (Oliver Bodart) – um den vor allem Lara sich rührend kümmert – ist die Welt ein heiler Ort und Lara das schönste Mädchen der Welt: Blonde Locken, volle Lippen, Wespentaille und strahlend blaue Augen. Darin verguckt sich auch der Nachbarsjunge. Doch der hat keine Ahnung, was hinter dem glänzenden Satin steckt. Denn Blut ist im Schuh.
Laras Seele wird in ihrem Körper zusammengestaucht, wie die Zehen beim Spitzentanz. Was von aussen federleicht erscheint, ist ein Kraftakt sondergleichen. Jeden Tag klebt Lara ihren Penis ab, damit er sich unter dem hauchdünnen Stoff der Trainingskleider nicht ganz so stark abzeichnet.
Sie entflieht dem gemeinsamen Nacktsein in der Mädchendusche, den Berührungen des Nachbarjungen, den gierigen Fragen der Mitschülerinnen, den Sorgen des Vaters und irgendwann auch ihrem eigenen Leben. Das einzige, was Lara will, ist neu sein. Keinen Penis mehr haben, dafür Brüste. Doch bis dahin ist es ein langer Weg.
Männer erzählen Frauengeschichten
Seine Lara lässt Regisseur Dohnt von einem Jungen mimen. Mit seinen vollen Lippen, hohen Wangenknochen und mandelförmigen Augen darf man Victor Polster mindestens als androgyn bezeichnen. Als Lara ist er wunderschön. Soweit, so viel wurde dem Jungschauspieler in die Wiege gelegt.
Doch bei «Girl» muss es ums Eingemachte gehen. Um das Spinnennetz an Gefühlen, in denen ein junger Mensch sich auf dem Weg zum Erwachsenen verstrickt. Um ein Vielfaches dichter gewebt, wenn das äusserliche Frauwerden nur mit dem Skalpell gelingt.
Blickt man auf die Preise, welche «Girl» am Filmfestival in Cannes abräumte, haben Dohnt und Polster die Frauengeschichte mit Bravour gemeistert. Hört man auf die Transgender Community, so sind nicht alle ganz glücklich damit, dass die Rolle der Transfrau mit einem «normalen» Mann besetzt worden ist. Schaut man auf den Film, bleibt nur eines zu sagen: Glückwünsch, Dohnt.
Polster gibt die Lara, als wäre er niemals wirklich Bub gewesen. Obwohl der Körper Mann bleibt, ist Lara eine Frau. Ihre Bewegungen, ihre Mimik, ihre Unsicherheit, das versuchte Frausein eines Mädchens, es gelingt dem jungen Polster, als hätte er Jahrzehnte an Erfahrung vorzuweisen.
Doch auch der beste Schauspieler kann keine durch Hormone spriessenden Brüste und umverteilte Fettpolster mimen. Statt die Maskenbilder ans Werk zu lassen, hat Dohnt das allerdings viel eleganter gelöst: Er setzt die Geschichte zum Beginn von Laras Hormontherapie an. Lässt Polster als Lara darob verzweifeln, dass die Brust trotz der kleinen, weissen Pillen flach bleibt. Dass der Körper Mann ist und weder die Seele, noch das Tutu oder die Medikamente diese flache Männlichkeit sprengen können – vorerst.
Wettbewerb
«Girl» läuft als Schweizer Vorpremiere am Zurich Film Festival (ZFF). Gewinnen Sie hier Tickets für die Vorstellung vom 28. September.
★★★★★
Ab dem 4. Oktober im Kino.