Ein Hotel über das halbe Dorf verteilt
Vielen italienischen Dörfern und Kleinstädten droht der Zerfall. Das Projekt «Alberghi Diffusi» belebt leerstehenden Häuser und lockt Gäste an.
Das Wichtigste in Kürze
- Viele italienische Dörfer und Kleinstädte sind am Zerfallen.
- Mit «Alberghi Diffusi» will man den Niedergang bremsen.
- Diese «verstreuten Hotels» sollen möglichst viele leerstehenden Häuser neu beleben.
- Gleichzeitig werden deren Gäste ins Dorf integriert.
Statt durch Hotelflure, mit Spannteppichen gedämpft, zieht man den Rollkoffer über holperige Pflastersteine.
Die Rezeption ist in einem alten Gemäuer, die Zimmer über den halben Borgo verteilt. Gefrühstückt wird im lokalen Café, Abendessen gibt es in der Trattoria, der Dorfplatz ist die Lounge.
Ob die freundliche Nachbarin eine Touristin ist oder eine Angestellte der Gemeindeverwaltung ist nicht sofort klar. Erfahren tut man es erst, wenn man den ersten Schwatz abgehalten hat.
Man kann sich hier abkapseln, wenn man will. Wer sich vor Covid-19 fürchtet, findet hier keine Lifte, keine engen Korridore, keine vollgepferchten Frühstücksräume.
Doch sich zurückzuziehen, entspricht nicht der ursprünglichen Idee.
Als Gast in einem sogenannten Albergo Diffuso lebt man Tür an Tür mit den Einheimischen . Damit wird man für eine befristete Zeit selber zum Dorfbewohner.
Verlassene Dörfer wiederbeleben
Albergo Diffuso ist eine typisch italienische Mischung von Hotel und Feriendorf, von Entwicklungsprojekt und Denkmalpflege. Diese «verstreuten Hotels» sollen dazu beitragen, verlassene und halb zerfallene Dörfer wieder zu beleben.
Doch wieso will in den schönsten mittelalterlichen Städtchen, auf malerischen kleinen Mittelmeerinseln niemand mehr leben?
Eine Antwort sind die fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven, welche vor allem Jüngere zum Abwandern bewegen.
Eine zweite Antwort: Vor allem im Friaul und in den Bergzügen der Abruzzen muss jede Generation mindestens ein schweres Erdbeben überstehen. Viele sind es müde, ihre Häuser jedesmal wiederaufzubauen, und ziehen weg.
Es war nach einem besonders verheerenden Beben 1976 im Friaul mit fast tausend Toten. Da kam Giancarlo Dall'Ara auf die Idee.
Der Tourismusfachmann besuchte einen schwer beschädigten Ort. Dort kam er zur Erkenntnis, dass ein Wiederaufbau allein nichts bringen würde, wenn niemand mehr hier leben wollte.
So entwickelte er das Modell des Albergo Diffuso und gründete später auch eine Nationale Vereinigung.
Zimmer über verschiedene Gebäude verstreut
Das Prinzip besteht darin, dass die Zimmer über verschiedene Gebäude im Ort verstreut sind, aber von einem Manager betreut werden. Ausserdem besitzen sie eine gemeinsame Rezeption besitzen und es werden die üblichen Hotel-Dienstleistungen angeboten.
Die Gebäude müssen im lokalen Stil gehalten sein, dürfen nicht neu gebaut, nur renoviert oder rekonstruiert werden. Sie sind traditionell und authentisch eingerichtet – ausser den zeitgemässen sanitären Anlagen natürlich.
Ein besonders eindrückliches Beispiel ist der Albergho Diffuso in der toskanischen Stadt Volterra. Dort leben Gäste mitten in der 3000-jährigen Geschichte von den Etruskern über die Römer und das Mittelalter.
Auch das nahegelegene Städtchen Mazzolla atmet diese Vergangenheit. «Ich betrachte ein Albergo Diffuso als eine Art Roman, der die Geschichte einer Kultur erzählt», sagte Dall’Ara dazu.
«Kein Albergo Diffuso ist wie das andere. Aber alle teilen die Leidenschaft für ihre Region, für das Borgo als Lebenseinheit, für Gastfreundschaft und Authentizität.»
Häuser erzählen eine Geschichte
Ein weiteres interessantes Beispiel ist der Albergo Diffuso EcoBelmonte im idyllischen Ort Belmonte an der Tyrrhenischen Küste in Kalabrien. Das Projekt entstand, weil sich junge Menschen für ihren Ort engagieren wollten und begannen, Häuser zu renovieren und zu vermieten. Auch hier erzählt jedes Haus eine Geschichte.
Bei Hochzeitsreisenden zum Beispiel ist das Haus «U Canalu», am Kanal, beliebt. Seine Geschichte geht so, dass eine Grossmutter das Haus ihrer Enkelin schenkte.
Damit diese, trotz heftigem Widerstand der Familie, mit ihrem Liebsten zusammenleben konnte.
Einige der Häuser in EcoBelmonte sind in den Fels gehauene Höhlen. So lebten hier früher viele. Dasselbe gilt für den Ort Matera in der Basilikata in der Nähe der Grenze zu Apulien. Der Albergo Diffuso Sextantio Le Grotte della Cività besteht aus gediegen renovierten ehemaligen Wohnhöhlen.
Von der grassierenden Armut, die in Matera bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts herrschte, ist hier nichts mehr zu spüren.
Es geht um Identität
Der Albergo Diffuso in Matera geht auf den schwedisch-italienischen Millionenerben Daniele Kihlgren zurück. So wie jener von Santo Stefano in den Abruzzen bei L’Aquila.
Kihlgren kam 1999 mit dem Motorrad nach Santo Stefano und hatte die Idee, das fast ausgestorbene Bergdorf wiederzubeleben.
Was ihn faszinierte, war die Unberührtheit und Schönheit des Ortes. 70 Menschen lebten damals dort; 1400 waren es hundert Jahre zuvor gewesen.
Kihlgren investierte zehn Millionen Euro und vermied bei der Renovation alle nicht unbedingt notwendigen Änderungen.
Keine neuen, geschliffenen Böden, keine blankpolierten Wände. Daniele Kihlgren sagt in einem Interview: «Es geht um Identität. Das Unperfekte und alle Schichten der Vergangenheit müssen erhalten bleiben.»
Fotos der Uni Zürich halfen bei Rekonstruktion
Die Fotografien eines Linguisten aus Zürich halfen bei der Rekonstruktion des Althergebrachten.
Um einen Sprachatlas auszuarbeiten und das Landleben zu dokumentieren, war Paul Scheuermeier im Auftrag der Universität Zürich zwischen 1923 und 1930 durch die Abruzzen gereist.
Santo Stefano dokumentiert auch, welchen wirtschaftlichen Aufschwung ein Albergo Diffuso verursachen kann: Nach dem Sextantio sind in dem Ort nicht weniger als zwei Dutzend weitere Gaststätten eröffnet worden.
Dank Reportagen in internationalen Medien wie der «New York Times» ist Santo Stefano inzwischen weltweit bekannt und gilt als Vorzeigebetrieb.
Konezpt wird international aufgegriffen
150 bis 250 dieser Alberghi Diffusi gibt es inzwischen in Italien. Je nachdem, wie eng die Kriterien der Associazione Nazionale Alberghi Diffusi ausgelegt werden. Das ist noch nicht sehr viel; immerhin gibt es in Italien weit mehr als 30'000 «klassische» Hotels.
Die britische Radio- und Fernsehanstalt BBC ging aber in einem Beitrag über Santo Stefano von einem riesigen Entwicklungspotenzial aus: Bis zu 15‘000 italienische Dörfer könnten sich in Alberghi Diffusi verwandeln und so Abwanderung und Zerfall stoppen.
Die Idee findet inzwischen über Italien hinaus Anklang: In der Schweiz gibt es Alberghi Diffusi oder sind zumindest in Planung. In Deutschland wurden die ersten Verstreuten Hotels eröffnet. Und sogar in China und Japan gibt es ähnliche Projekte.