Deshalb ist Bolivien ein einziger Brandherd
Seit der Präsidentschaftswahl kommt es in Bolivien immer wieder zu Krawallen. Ein Experte erklärt, was los ist und was zur Entschärfung nötig wäre.
Das Wichtigste in Kürze
- Vor vier Wochen fanden in Bolivien Präsidentschaftswahlen statt.
- Seither kommt es täglich zu Protesten, mehrere Menschen sind bei Krawallen gestorben.
- Ein Experte schätzt die aktuelle Situation ein.
Seit das bolivianische Wahlgremium Evo Morales zum Wahlsieger erklärt hat, wird Bolivien von Krawallen überschattet. Morales hat mittlerweile sein Rücktrittschreiben beim Parlament eingereicht und befindet sich in Mexiko im Exil. Die oppositionelle Jeanine Añez hat sich zur Interimspräsidentin ernennen lassen.
Stephan Rist, Professor für Humangeographie an der Uni Bern und Bolivien-Experte, erklärt, wie es soweit kommen konnte und was nötig wäre, um die Situation zu entschärfen.
Nau: Weswegen ist es nach der Wiederwahl von Morales zu solchen Protesten gekommen?
Stephan Rist: Auf den ersten Blick scheint es überraschend, dass die Situation nach der Wiederwahl so eskaliert ist. Rückblickend lässt sich aber sagen, dass es sich um einen geplanten «Regime Change» der Opposition mit «Endstation Staatsstreich» handelte. Mit dem Ziel eine Wiederwahl von Morales um jeden Preis zu verhindern. Bereits Monate vor den Wahlen sprach die Opposition davon, dass das Wahlgremium nicht neutral sei und sie bei einer Niederlage das Resultat nicht anerkennen würden.
Wichtige Wahldokumente bei Überfällen verbrannt
So wurde eine enorme emotionale und politische Spannung aufgebaut, die nach der Wiederwahl von Morales zum Ausbruch kam. Ohne auf die offiziellen Wahlresultate zu warten, wurden sechs regionale Wahlzentren überfallen und abgebrannt. Wichtige Wahldokumente sind dabei verbrannt. Als Morales für die Wahlmanipulationsvorwürfe Beweise forderte, reagierte die Opposition nicht.
Die Wahlbeobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatten einige Schwachpunkte beim ersten Wahlgang identifiziert. Zur Befriedung der Lage schlugen sie deshalb vor, einen zweiten Wahlgang durchzuführen. Die Opposition, die das zuvor auch gefordert hatte, wollte plötzlich nichts mehr davon wissen. Sie verlangte Neuwahlen, organisiert von einem neuen Wahlgremium und ohne Beteiligung von Morales.
Die gewaltsamen Aktionen, Strassensperren und demütigenden Strafaktionen der Opposition gegen Indigene und Morales Unterstützer hielten weiter an. Die Folge: Millionen von Bolivianern konnten zwei Wochen lang nicht mehr zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Arzt oder in die Schule gehen.
Zur Entspannung der Lage lud Morales die OAS zur Überprüfung der Wahlauszählung ein. Am 10. November veröffentlichten sie den Zwischenbericht. Sie kamen aber zum Schluss, dass es unmöglich sei, festzustellen, ob es Wahlbetrug gab oder nicht. Zur Befriedung der Gewalt schlugen sie Morales Neuwahlen vor. Der schlug dies auch umgehend vor.
Anstatt die Proteste einzustellen, forderte die Opposition die Entfernung von Morales. Als rechtmässiger Präsident hätte er nur mithilfe von Polizei und Militär die Ordnung wiederherstellen können. Genau da kündigten diese ihm aber die Gefolgschaft auf und empfahlen ihm den sofortigen Rücktritt.
Damit kam es zu einem «klassischen» Staatsstreich. Als Morales erfuhr, dass Oppositionelle 50'000 US-Dollar für seine Überstellung an die Armee bezahlen würden, entschied er sich zum Rücktritt und zum Asyl in Mexiko.
Nau: Spricht die Opposition zurecht von Wahlbetrug?
Stephan Rist: Da steht Aussage gegen Aussage. Die Regierung sagt, sie habe das bestmögliche für saubere Wahlen getan. Der Zwischenbericht der OAS zeigt, dass es gewisse Schwächen gab, die verbessert werden könnten, kann aber nicht feststellen, ob es Wahlfälschung gab.
Ein angesehenes unabhängiges Forschungsinstitut aus den USA hat die Auszählung der Daten statistisch überprüft. Deren Schluss ist klar: Der Sieg von Evo Morales kann als «gesichert gelten».
Opposition und Regierung müssen gemeinsam Situation entschärfen
Nau: Warum hat sich Morales für einen Rücktritt entschieden?
Stephan Rist: Für uns Bolivien-Kenner kam dieser Entscheid ziemlich überraschend. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt als rechtskräftig gewählter Präsident das Recht auf seiner Seite. Als Oberbefehlshaber von Polizei und Militär hätte er diese gegen Demonstranten einsetzen können. Diese hatten ihm aber gerade in diesem Moment die Gefolgschaft gekündigt und ihm den Rücktritt «empfohlen».
Morales wurde klar, den laufenden Staatsstreich hätte man nur mit dem massiven Einsatz von Gegengewalt seiner Unterstützer aufhalten können. Er wollte aber kein Blutbad verursachen, wie er selbst erklärte. Wenn sein Rücktritt ein grosses Blutvergiessen verhindern könne, wolle er als Präsident einer Versöhnung nicht im Wege stehen. Eindrücklich zeigte er, dass seine angebliche «Machtversessenheit» ein gut konstruiertes und wirksam eingesetztes politisches Vorurteil war.
Nau: Was wäre politisch gesehen nötig, damit sich die Situation in Bolivien wieder entschärft?
Stephan Rist: Die verfassungswidrig selbsternannte Präsidentin der Opposition müsste ihr Amt zugunsten einer Lösung der schweren, von ihr verursachten Verfassungskrise zur Verfügung stellen. Das müsste im Rahmen – und nicht unter Umgehung – von Verhandlungen mit dem legal immer noch funktionstüchtigen Parlament geschehen, denn nur diese Instanz kann Überganspräsidenten verfassungskonform ernennen.
Zur kurzfristigen Entspannung müssten auch die Forderungen des Menschenrechtsrates der OAS umgesetzt werden: Kein Einsatz von Ordnungskräften mit Schusswaffen und Annullation eines Dekretes, mit dem die Präsidentin den Militärs Straffreiheit beim Einsatz gegen Protestierende gewährt.
Die Unterstützer von Morales, welche das Recht und die Verfassung voll auf ihrer Seite haben, müssten bereit sein, sich so – wie ihr Präsident – nicht in eine Gewaltspirale hineinziehen zu lassen. Dem Frieden zu liebe müssten sie sich mit der Opposition an einen Tisch setzen und einen für beide Seiten gangbaren verfassungskonformen Ausweg zu suchen.