Indiens MeToo Moment ist da

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Indien,

Es hat ein Jahr gedauert, bis die #MeToo-Bewegung in Indien angekommen ist – und wie. Gefühlt im Minutentakt machen neue Vergewaltigungen von sich reden.

Indische Journalistinnen halten Plakate und rufen Parolen während eines Protestes gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in Neu-Delhi.
Indische Journalistinnen halten Plakate und rufen Parolen während eines Protestes gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in Neu-Delhi. - dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Indien steht oft wegen sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder im Fokus.
  • Bislang wurde wenig darüber geredet: Nun geht eine Bewegung durch das Land.

Die indische Journalistin Sandhya Menon hat eine ziemlich verrückte Woche hinter sich. Eine Woche, in der sie fast pausenlos im Fernsehen interviewt wurde. Eine Woche, die damit begann, dass Menon einem ihrer früheren Redakteure sexuelle Belästigung vorwarf. Und die sieben Tage später, am Freitag, darin gipfelte, dass eine Online-Zeitung die bislang eher unbekannte Freiberuflerin zu einer «gewöhnlichen Superheldin» erklärte.

Zwischendrin hatten Dutzende Frauen Menon ihre eigenen Erfahrungen mit sexueller Belästigung anvertraut und Männer namentlich angeklagt. Diese Geschichten veröffentlicht Menon seitdem auf Twitter gefühlt im Minutentakt, oft ohne die Namen der Frauen zu nennen. Weitere Journalistinnen sammeln und verbreiten ebenfalls solche Anschuldigungen – darunter Rituparna Chatterjee, die auf Twitter erklärte: «Dies ist Indiens #MeToo-Moment.»

Ursprung in sozialen Medien

Bis zu diesem Moment hat es fast genau ein Jahr gedauert, seit die US-Schauspielerin Alyssa Milano am 15. Oktober 2017 den Gebrauch der Kennung #MeToo (Englisch für «ich auch» im Sinne von: «Auch ich bin sexuell missbraucht worden.») in sozialen Medien ins Leben rief. Indien macht so oft mit Berichten grausamer sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder Schlagzeilen, dass kaum mal darüber geredet worden war, wie Frauen in dem 1,3-Milliarden-Einwohner-Land jeden Tag auf andere Weise belästigt, missbraucht und diskriminiert werden.

Jetzt werden aber auch in Indien Männer beim Namen genannt, denen vorgeworfen wird, ihre Macht über Frauen am Arbeitsplatz oder anderswo oft jahrelang ausgenutzt zu haben – um diese etwa ungebeten zu berühren, von ihnen aufdringlich Sex zu verlangen, sie gegen ihren Willen zu küssen, frauenfeindliche Witze zu erzählen oder ihnen das Leben zur Hölle zu machen, wenn sie sich wehrten. Es handelt sich um erfolgreiche Journalisten, Schauspieler, Komiker, Musiker, Schriftsteller, PR-Leute, auch ein ranghohes Regierungsmitglied.

«Es war, als hätten wir alle darauf gewartet, dass jemand den Startknopf drückt», meint Menon. Das tat schliesslich die Schauspielerin Tanushree Dutta vor gut zwei Wochen. Sie erzählte in einem Fernsehinterview, wie der erfahrene Bollywood-Star Nana Patekar sie bei einem Filmdreh im Jahr 2008 bedrängt habe. Als sie daraufhin wegfahren wollte, habe er einen Mob auf sie gehetzt, der das Auto, in dem sie sass, demolierte. Davon kursiert ein Video im Internet.

Keine Konsequenzen

Dutta, die inzwischen in den USA lebt, hatte sich bereits damals bei der Schauspielergewerkschaft CINTAA beschwert und in Interviews von dem Vorfall erzählt – ohne, dass es Konsequenzen für Patekar gegeben hätte. Im Gegenteil: Dutta wurde als unprofessionell dargestellt und fiel nach eigenen Angaben in eine Depression.

Als sie nun, zehn Jahre danach, wieder an die Öffentlichkeit trat, war allerdings ein «Tipping-Point» erreicht, wie Menon es beschreibt. Mit anderen Worten: Indische Frauen haben die Schnauze voll und brechen ihr Schweigen. Eine Journalistin gab an, den Vorfall zwischen Patekar und Dutta gesehen zu haben. Indische Filmstars wie Priyanka Chopra und Freida Pinto erklärten öffentlich ihre Unterstützung für Dutta. Gegen Patekar wird inzwischen ermittelt. Es folgten nach und nach weitere Anschuldigungen gegen andere Männer, und dann kam Menon. Seitdem rollt der Ball immer schneller.

Menon betont, dass sie sich vergewissere, dass die Twitter-Konten, von denen ihr die Geschichten geschickt werden, echt seien. Und, dass die Urheber der Nachrichten sich bereit erklären, falls nötig vor Gericht auszusagen. Die Sorgfalt ist geboten, damit keine falschen Behauptungen verbreitet werden, mit denen die gesamte Bewegung diskreditiert werden könnte.

«Honigfallen»

Zumal in grossen Teilen der indischen Gesellschaft noch Ansichten herrschen wie die, die ein Parlamentsabgeordneter der Regierungspartei kürzlich ausdrückte: Vermeintliche Opfer sexuellen Missbrauchs würden in Wirklichkeit gegen Bezahlung Männer in «Honigfallen» locken, um sie dann zu erpressen.

Angesichts dessen und des oft unwirksamen indischen Justizsystems ist noch offen, ob Männer für sexuelle Belästigung und Missbrauch tatsächlich bestraft werden – auch wenn manche Beschuldigte nun von ihren Jobs suspendiert wurden oder sich entschuldigt haben. Das gilt insbesondere, wenn die Opfer nicht zum kleinen Gesellschaftskreis gehören, der sich in den Medien Gehör verschaffen kann.

«Wir überlegen gerade, wie wir die Geschichten von Frauen erzählen können, die mehr unterdrückt werden als wir, die wir so privilegiert sind», sagt Menon von sich und ihren Kolleginnen.

Immerhin ist in Indien eine Diskussion angestossen worden, die wohl nicht so bald verstummen wird. «Ich denke, Indien wird noch viele #MeToo-Momente erleben», meint die Bloggerin Sheena Dabholkar. «Jede Industrie hat einen nötig.»

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