Waffenruhe in Gaza soll am Morgen beginnen
Ab heute sollen die Waffen schweigen – und israelische Geiseln gegen Palästinenser ausgetauscht werden. Ein endgültiges Ende des Krieges bedeutet das nicht.
Im Gazastreifen soll heute früh nach mehr als 15 Monaten Krieg eine sechswöchige Waffenruhe zwischen Israel und der islamistischen Hamas in Kraft getreten.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu betonte am Vorabend den zeitlich begrenzten Charakter der Feuerpause, deren erste Phase um 7.30 Uhr MEZ im Gazastreifen beginnen soll. Die Hamas hätte jedoch eigentlich schon am Samstag die Namen der drei heute von ihr freizulassenden Geiseln mitteilen müssen. Ohne die Namensliste werde man nicht weitermachen können, betonte Netanjahu. Israel werde Verstösse gegen die Einigung nicht dulden.
Während der Waffenruhe sollen 33 der 98 im Gazastreifen verbliebenen israelischen Geiseln gegen 1904 inhaftierte Palästinenser ausgetauscht werden. Unter den Geiseln sind auch Israelis, die zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. In Israel wird davon ausgegangen, dass 34 der Entführten vermutlich bereits tot sind.
Laut der israelischen Nachrichtenseite «Ynet» ist die Freilassung der ersten drei Geiseln heute um 15 Uhr MEZ geplant. Nach israelischen Angaben handelt es sich um drei Zivilistinnen. Etwa zur gleichen Zeit sollen in Israel die ersten rund 90 palästinensischen Häftlinge freigelassen und von Sicherheitskräften entweder ins besetzte Westjordanland oder in den Gazastreifen gebracht werden.
Guterres: Verteilung humanitärer Hilfe in Gaza nicht einfach
Die erste Phase des Abkommens sieht auch eine schnelle Verbesserung der Versorgung mit Lebensmitteln für die mehr als zwei Millionen Bewohner des weitgehend zerstörten Gazastreifens vor, von denen nach UN-Angaben 90 Prozent unter Hunger leiden. Zudem muss sich die israelische Armee aus Bevölkerungszentren des Gazastreifens zurückziehen. Die Verteilung der humanitären Hilfe werde nicht einfach sein, sagte UN-Generalsekretär António Guterres. Es gebe in Gaza Banden, die systematisch die Konvois plünderten.
«Wir haben im Moment nur eine begrenzte Anzahl von Lastwagen in Gaza», sagte Guterres am Samstag bei einem Besuch im Libanon. Es seien viele Massnahmen erforderlich, um die Verteilung in vollem Umfang zu gewährleisten. Israel habe die Verpflichtung, «keine Hindernisse zu schaffen», sagte Guterres. Die Situation im Gazastreifen sei weiterhin «äusserst komplex». Der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in den palästinensischen Gebieten, Muhannad Hadi, rief alle beteiligten Seiten auf, den Deal umzusetzen.
Netanjahu: Können Krieg wieder beginnen
Netanjahu bekräftigte am Vorabend der Waffenruhe jedoch, Israel werde bei einem Scheitern des Abkommens die Kämpfe wiederaufnehmen und alle Kriegsziele durchsetzen, darunter die Zerschlagung der Hamas. Zudem werde Israels Truppenkontingent am Philadelphi-Korridor entlang der Grenze zu Ägypten nicht verkleinert, sondern vergrössert.
Einzelheiten der zweiten und dritten Phase des Abkommens über ein dauerhaftes Ende des Krieges und einen Abzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gazastreifen sollen in Verhandlungen geklärt werden, die am 16. Tag der Waffenruhe beginnen sollen.
Sollten die Verhandlungen der zweiten Phase ergebnislos bleiben, würden US-Präsident Joe Biden wie auch dessen designierter Nachfolger Donald Trump Israels Recht unterstützen, die Kämpfe im Gazastreifen wieder aufzunehmen, sagte Netanjahu. «Wenn wir zum Kampf zurückkehren müssen, werden wir dies auf neue Arten und mit grosser Macht tun», sagte er, ohne Details zu nennen.
Israelis fordern Umsetzung des gesamten Gaza-Deals
Kurz vor dem Inkrafttreten der Waffenruhe forderten Tausende Demonstranten in Israel eine vollständige Umsetzung des dreistufigen Abkommens, damit alle Geiseln freikommen. Angehörige befürchten, dass die Vereinbarung nach oder noch während der ersten Phase scheitern könnte. Sollten die Kämpfe dann wieder ausbrechen, könnten etliche Entführte im Gazastreifen zurückbleiben. Die Demonstranten erinnerten am Abend auch das Schicksal der jüngsten Geisel. Der als acht Monate altes Baby verschleppte Junge namens Kfir wurde am Samstag zwei Jahre alt.
Das Kind hat neben der israelischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Kfir sei in der Hölle gefangen und sie wisse nicht einmal, ob er noch am Leben sei, sagte die Tante des Jungen bei einer Kundgebung in Tel Aviv. Die Hamas hatte mitgeteilt, der Junge sei ebenso wie sein älterer Bruder und ihre Mutter bei israelischen Bombardements getötet worden. Aus Israel gibt es jedoch für ihren Tod keine Bestätigung. Alle drei stehen Medienberichten zufolge auf der Liste der Geiseln, die in der ersten Phase des Abkommens freikommen sollen. Bei vielen der Entführten geht es nur noch darum, ihre sterblichen Überreste auszuhändigen.
Israels Militär auf Aufnahme der Geiseln vorbereitet
Die freizulassenden Geiseln sollen laut Berichten Mitarbeitern in die Obhut des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz übergeben und zunächst in Erstaufnahmestationen gebracht werden, die Israels Militär nahe der Grenze zu Gaza eingerichtet hat. Sie befinden sich laut der «Times of Israel» in Reim und an den Grenzübergängen Kerem Schalom und Erez. Dort sollen die Befreiten von Ärzten und Psychologen medizinisch erstversorgt und betreut werden. Anschliessend würden sie zur weiteren Behandlung in Krankenhäuser gebracht und mit ihren Familien zusammengeführt, teilte die israelische Armee mit.
Israel warnt Gaza-Bewohner: Nicht Soldaten nähern
Vor dem Inkrafttreten der Waffenruhe warnte Israels Armee die Bewohner des Gazastreifens, sich Gebieten zu nähern, in denen das Militär zunächst weiter stationiert sein wird. Dazu gehören das Gebiet am Netzarim-Korridor, der den Gazastreifen in zwei Hälften teilt, der Grenzübergang zu Ägypten in Rafah sowie der Philadelphi-Korridor entlang der Grenze zu Ägypten im Süden Gazas.
Viele der aus dem Norden des abgeriegelten Küstenstreifens in den Süden vertriebenen Palästinenser planen eine Rückkehr. Dies soll laut dem Abkommen ab dem siebten Tag nach dem Inkrafttreten der Waffenruhe möglich sein. Der seit Mai geschlossene Grenzübergang Rafah soll für die Einfuhr humanitärer Hilfe wieder geöffnet werden. Der Zeitpunkt hierfür ist allerdings offen.
Auslöser des Krieges war das beispiellose Massaker der Hamas und anderer islamistischer Terroristen, bei dem am 7. Oktober 2023 rund 1200 Menschen in Israel getötet und mehr als 250 in den Gazastreifen verschleppt wurden. Israel reagierte mit Angriffen auf die Hamas, bei denen nach palästinensischen Angaben mehr als 46'700 Menschen getötet und mehr als 110.200 weitere verletzt wurden. Die unabhängig nicht überprüfbaren, von den Vereinten Nationen aber als glaubhaft eingestuften Zahlen unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern.