Darum geht es beim indisch-chinesischen Grenzkonflikt
Anfang Woche hat der Konflikt zwischen China und Indien erstmals seit 45 Jahren Menschenleben gefordert. Worum streiten sich die beiden Atommächte eigentlich?
Das Wichtigste in Kürze
- Anfang Woche kam es zu Zusammenstössen zwischen indischen und chinesischen Soldaten.
- Durch die Kämpfe kamen mindestens 20 indische Soldaten ums Leben.
- Im Zentrum steht ein langjähriger Streit um das Grenzgebiet im Himalaja.
Die Szenen ereigneten sich in der Nacht auf Dienstag in der Bergregion Ladakh auf über 4000 Meter Höhe auf einem engen Grat: Eine indische Patrouille stiess auf chinesische Soldaten. Bei der darauffolgenden Konfrontation wurde der kommandierende Offizier der Inder geschubst und fiel die Schlucht runter, wie der «Guardian» berichtet.
Daraufhin brach ein Kampf zwischen den beiden Seiten aus. Hunderte Soldaten sollen auf beiden Seiten zur Verstärkung herangerufen worden sein. Es wurde aber nicht etwa aufeinander geschossen: Die Truppen sollen mit Fäusten, Steinen und Eisenstangen aufeinander losgegangen sein. Auch von mit Nägeln bestückten Bambusstöcken war die Rede.
Erstmals seit 45 Jahren wieder Tote
Laut der indischen Armee sind mindestens 20 ihrer Soldaten dabei ums Leben gekommen. Drei während des Kampfes, 17 seien später bei Temperaturen unter null Grad ihren Verletzungen erlegen. Mehr als 43 chinesische Soldaten seien schwer verletzt oder getötet worden, schrieb die indische Nachrichtenagentur ANI unter Berufung auf Kreise in der indischen Regierung. China hat diese Angaben aber nicht bestätigt.
Peking warf aber den Indern vor, «zweimal die Grenze überschritten und das chinesische Personal provoziert und angegriffen» zu haben. Es ist das erste Mal seit 1975, dass der Konflikt zwischen den beiden Staaten Menschenleben gefordert hat. Damit scheint ein uralter Konflikt zwischen den beiden Atommächten wieder aufzuflammen.
Spannungen um Grenzgebiet seit 1950er Jahren
Obwohl Indien 1950 als einer der ersten Staaten die kommunistische Führung als legitime Regierung Chinas anerkannte, verschlechterten sich die Beziehung schnell. Auch weil die Inder dem aus Tibet geflüchteten Dalai Lama 1959 Zuflucht gewährten. Drei Jahre später kam es zum Grenzkrieg um umstrittene Gebiete im Himalaja.
Dieser endete mit einem Waffenstillstandsabkommen, worin sich die beiden Staaten provisorisch auf eine 3440 Kilometer lange Grenzlinie, die «Line of Actual Control» (LAC), einigten. Eine Einigung auf einen offiziellen Grenzverlauf blieb jedoch aus, der genaue Verlauf der LAC umstritten.
Seither kommt es immer wieder zu Konflikten und Scharmützeln im Grenzgebiet, zuletzt 2017. Die aktuellen Spannungen begannen sich im April aufzubauen, als die chinesische Armee mehrere Grenzposten in dem Gebiet besetzte. Indien schickte im Gegenzug Hunderte Soldaten in die Region. Nun werfen die Staaten sich gegenseitig vor, an mehreren Orten in das Gebiet des anderen eingedrungen zu sein.
Zwei Nationalisten im Kräftemessen
Indiens Premier Narendra Modi und Chinas Präsident Xi Jinping treffen sich regelmässig zu «informellen Gipfeln». Doch eine Einigung über das umstrittene Gebiet haben sie bisher nicht erreicht. Das dürfte damit zu tun haben, dass in beiden Staaten Nationalisten regieren.
Die chinesische Führung tritt gegen aussen hin immer aggressiver auf, wie am für die Hongkonger Demokratie fatalen Sicherheitsgesetz zu sehen ist. Peking versucht offensichtlich, die Machtverhältnisse im Südchinesischen Meer zu verschieben.
Der indische Innenminister Amit Shah versprach letztes Jahr wiederum, den chinesisch kontrollierten Teil Kaschmirs zurückzuholen. In den Augen der chinesischen Regierung eine Provokation. Ein offener Konflikt zwischen den zwei bevölkerungsreichsten Staaten und Atommächten hätte geopolitische Konsequenzen globalen Ausmasses.
Deswegen kann keine Seite ein Interesse daran haben, dass der Konflikt völlig eskaliert. Im Hintergrund arbeiten Diplomaten daran, die Lage zu entschärfen. Dennoch: Weder Xi noch Modi wollen als Verlierer aus diesem Kräftemessen hervorgehen.