Anleger verklagen VW auf Milliarden
VW und der Abgas-Skandal – eine fast unendliche Geschichte. Nach dem Betrug fordern Aktionäre Schadenersatz in Milliardenhöhe.
Das Wichtigste in Kürze
- VW steht vor einer erneute Milliardenzahlung im Abgas-Skandal.
- Aktionäre fordern wegen des Diesel-Betrugs Schadenersatz.
«Dieselgate» lässt Volkswagen noch immer nicht los. Allein in Nordamerika haben Vergleiche den Autoriesen mehr als 28 Milliarden Franken gekostet – und jetzt steht in Deutschland ein Showdown im Mammut-Rechtsstreit mit Anlegern bevor.
Die mündliche Verhandlung am Oberlandesgericht Braunschweig beginnt am Montag – Aktionäre fordern im Musterverfahren Schadenersatz in Milliardenhöhe für erlittene Kursverluste. Die entscheidende Frage ist: Hat VW die Märkte zu spät informiert?
Wer wusste wann was?
In dem Rechtsstreit geht es aber immer auch um die wohl spannendste Frage zum Abgas-Skandal: Wer wusste wann was im VW-Konzern? Dabei geht es laut Klägeranwalt Andreas Tilp weniger darum, ob der frühere Konzernlenker Martin Winterkorn Bescheid wusste. Auch wenn Manager der Ebene darunter Mitwisser waren, werde dies dem Konzern zugerechnet.
Mit der Ende Februar eingereichten Klageerwiderung im Musterverfahren stellt Volkswagen vor allem klar: Es gab aus der Sicht des Konzerns keine konkreten Anhaltspunkte für eine Kursrelevanz der Affäre, bis die US-Umweltbehörden am 18. September 2015 unerwartet mit ihren Anschuldigungen an die Öffentlichkeit gingen. Demnach ging der heutige Volkswagen-Aufsichtsratschef und frühere Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch noch kurz vor Bekanntwerden des Abgasskandals in den USA von Risiken von höchstens 170 Millionen Franken aus.
In dem Braunschweiger Verfahren, das ursprünglich für April angesetzt war, soll jetzt geklärt werden, ob VW seinen Pflichten gegenüber Investoren nachgekommen ist. Und dem Vernehmen nach ist Pötsch auch bereit, in dem Verfahren auszusagen.
Schon 2008 bekannt?
Tilp betont, spätestens im Juni 2008 hätte Volkswagen zum Thema Diesel-Abgasreinigung und geltenden US-Stickoxidnormen sinngemäss veröffentlichen müssen: «Wir haben es nicht geschafft.» Danach habe VW betrogen – und weil die Anleger das nicht wussten, hätten sie Aktien zu teuer gekauft.
Worum geht es eigentlich genau? Die Richter müssen beurteilen, ob VW die eigenen Investoren rechtzeitig über die Affäre rund um millionenfachen Betrug mit manipulierten Dieselmotoren informiert hat. Unmittelbar nach Aufdeckung des Skandals durch die US-Behörden Ende September 2015 brach nämlich der Kurs der VW-Aktie ein – zeitweise verloren die Vorzugspapiere des Konzerns fast die Hälfte ihres Werts. Anleger erlitten heftige Verluste.
Nun meinen Grossinvestoren wie die Sparkassentochter Deka, die als Musterklägerin auftritt, dass VW den Kapitalmarkt zu spät informiert hat. Was steckt dahinter? Laut Gesetz müssen Nachrichten, die den Firmenwert beeinflussen können, umgehend («ad hoc») veröffentlicht werden. Das habe Volkswagen versäumt, ist Klägeranwalt Tilp sicher. In der VW-Klageerwiderung heisst es allerdings, die Ad-hoc-Pflicht setze «ein erhebliches Kursbeeinflussungspotenzial der betreffenden Information voraus». Eine solche Kursrelevanz sah bei dem Autobauer demnach niemand.
Juristen gaben Entwarnung
Der Konzern stützt sich auf eine Risikoprüfung, die er im August 2015 von der US-Wirtschaftskanzlei Kirkland & Ellis erhielt. Darin heisst es zwar, der Konzern werde wohl nicht ohne Strafen davonkommen. Aber: Das höchste – bis dahin – je verhängte Bussgeld habe Hyundai mit gut 88 Franken pro Auto gezahlt.
Der Vergleich habe die Südkoreaner 2014 insgesamt knapp 100 Millionen Franken gekostet. Damit geben die Juristen weitgehend Entwarnung in der Frage der finanziellen Gefahr: «Das Luftreinhaltegesetz führt zwar sehr hohe Maximalstrafen auf, aber diese gesetzlichen Höchstwerte haben keine direkte Relevanz für Fälle, die eine wesentliche Anzahl an Fahrzeugen betreffen.»
VW erwartete laut Klageerwiderung denn auch, dass sich Strafzahlungen vermutlich im Rahmen der bisherigen Behördenpraxis bewegen würden. Das würde eine Grössenordnung bedeuten, die bei Erlösen von mehr als 200 Milliarden Euro im Geschäftsjahr 2014 und Rückstellungen für Gewährleistungen und Kulanzen – ebenfalls im Jahresabschluss 2014 – in zweistelliger Milliardenhöhe laut Dokument keine Relevanz für den Kapitalmarkt hätte.
Ohnehin hätte der Vorstand nach VW-Ansicht den sogenannten Weg der Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Pflicht wählen können – der schwebenden Behördengespräche wegen. Auch dies weist Tilp zurück – VW habe eine staatliche Untersuchung in den USA durch «permanentes Leugnen und Verschleiern des wahren Sachverhalts» torpediert, heisst es in einem entsprechenden Schriftsatz. Mit Verhandeln habe das nichts zu tun.
Laut VW-Klageerwiderung verdichteten sich erst von Mai 2015 an auch auf der Führungsebene des Konzerns die Hinweise darauf, dass es «ein Problem mit US-Behörden wegen Emissionen» gebe. Hintergrund war, dass die Behörden die Zulassung von Dieselfahrzeugen des Modelljahres 2016 von einer plausiblen Erklärung der Stickoxidwerte der im Markt befindlichen Fahrzeuge abhängig machten.
Später Paradigmenwechsel
Dann kam der vielzitierte «Schadenstisch» am 27. Juli 2015 mit unter anderem dem damaligen Vorstandschef Winterkorn: Nicht mitgeteilt worden sei dort aber, dass es um eine nach US-Recht unzulässige Abschalteinrichtung («defeat device») der Abgasreinigung gehen könne, geht aus der Klageerwiderung hervor.
Am 18. September 2015 kam es nach Einschätzung der VW-Juristen zu einem Paradigmenwechsel: Damals veröffentlichten die US-Behörden ihre «Notice of Violation» – für den Vorstand laut Klageerwiderung unerwartet und im Gegensatz zur bisherigen Bussgeld- und Verwaltungspraxis. Am 22. September verschickte VW die erste «ad-hoc»-Mitteilung und gab bekannt, rund 6,5 Milliarden Euro für die Bewältigung zur Seite zu legen.
Sollte Tilp sich vor Gericht durchsetzen, könnte dies VW Milliarden kosten. In 1645 Schadenersatzklagen werden Forderungen von knapp 4 Milliarden Euro geltend gemacht. Insgesamt liegen 1668 Klagen über fast 9 Milliarden Euro vor. Wie immer es ausgeht - «es geht zum Bundesgerichtshof, egal wer gewinnt oder verliert», meint Tilp.