Coronavirus: Ist die zweite Welle schon da?

Jochen Tempelmann
Jochen Tempelmann

Bern,

In fast allen Ländern West- und Mitteleuropas steigen die Infektionszahlen des Coronavirus. Die Politik findet keine klare Antwort auf die steigenden Zahlen.

Coronavirus Zweite Welle
Schülerinnen sitzen nach den Sommerferien mit Schutzmaske im Unterricht. - Keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • In fast ganz Mitteleuropa steigen die Corona-Fallzahlen erneut.
  • Der R-Wert liegt über 1 – das wird mittelfristig zum Problem.
  • Es brauche schnell neue Lösungen, warnen Experten.

Die Corona-Statistiken der europäischen Länder zeigen einen besorgniserregenden Trend: In fast allen Ländern Europas steigen die Neuinfektions-Zahlen. Vielerorts erreichten die Fallzahlen den höchsten Wert seit dem Ende des Lockdowns.

Die Politiker bleiben in vielen Ländern weiter in Beobachtungs-Stellung. Doch die Frage, wann wieder neue, strengere Massnahmen ergriffen werden müssen, gewinnt mit jedem Tag an Bedeutung.

So ist die Lage in den Ländern Westeuropas

Spanien war beim Coronavirus in Sachen «Zweite Welle» gewissermassen Vorreiter. Besonders prekär ist die Lage in der Gegend von Saragossa: Die 14-Tage-Inzidenz der vergangenen zwei Wochen lag bei 522 Fällen pro 100'000 Einwohner. Das ist fast zehnmal so hoch wie der Grenzwert für die Risikogebiets-Deklaration der Schweiz.

Coronavirus Spanien Aragon Welle
Soldaten des spanischen Militärs errichten am 16. Juli in der Region Aragon ein Quarantäne-Camp für Saisonarbeiter. - Keystone

Deutschland, Frankreich und die Schweiz verzeichneten diesen Mittwoch den höchsten Wert an Neuinfektionen seit dem Ende der ersten Welle. Österreich registrierte heute gar 282 neue Fälle. So viel wie seit dem 10. April nicht mehr.

Auch in Italien, Dänemark, Norwegen und Grossbritannien zeigt der Trend nach oben. Lediglich in Luxemburg und Belgien sanken die Zahlen zuletzt.

Zahlen nicht mit der ersten Welle vergleichbar

Die Niederlande meldete vergangenen Mittwoch gar den höchsten täglichen Neuinfektions-Wert überhaupt seit dem Ausbruch des neuen Coronavirus. Auch wenn sich die Zahlen mancherorts den Werten der ersten Welle nähern: Wirklich vergleichbar sind die Zahlen nicht.

In der ersten Welle war man noch deutlich schlechter vorbereitet: Es gab vielerorts nicht genügend Testkapazitäten, um alle Verdachtsfälle zu testen. Das ist jetzt anders – entsprechend ist die Dunkelziffer deutlich gesunken. Dies sieht man an den Todeszahlen, welche im Vergleich zur ersten Welle viel niedriger liegen.

Coronavirus: R-Wert liegt über 1 – das wird zum Problem

Tatsächlich dürften wir vom Ausmass der ersten Welle des Coronavirus also noch weit entfernt sein. Dennoch sind die steigenden Zahlen alarmierend: an den meisten Orten liegt die Basisreproduktionszahl R wieder höher als 1. Das bedeutet, dass eine infizierte Person im Schnitt mehr als eine andere Person ansteckt.

Coronavirus Zweite Welle entwicklung
Die täglich vom BAG vermeldeten Neuinfektionen mit dem Coronavirus in den vergangenen drei Wochen: Die Tendenz zeigt nach oben. - Keystone

Solange R konstant über 1 liegt, steigen die Neuinfektionszahlen exponentiell. Die Lösung des Problems der steigenden Zahlen ist mathematisch banal: R muss wieder unter 1 sinken – eine infizierte Person muss im Schnitt weniger als eine andere Person anstecken. Was epidemiologisch simpel ist, ist politisch jedoch eine grosse Hürde.

«Ein zweiter Lockdown wäre fatal»

Die vielerorts steigenden Zahlen zeigen, dass die Massnahmen-Lockerung zu weit gegangen ist: Würde der aktuell betriebene Aufwand genügen, würde sich das Coronavirus nicht erneut ausbreiten. Doch wie soll man jetzt reagieren?

Coronavirus Zweite Welle
Strassenszene in Saragossa am 14. Juli: Die Region Aragon verhängte neue Massnahmen, darunter eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit. Mittlerweile ist der R-Wert der Region wieder unter 1 gesunken. - Keystone

Die Politik konnte angesichts der dramatischen Situation im März den Lockdown gut verkaufen. Die Menschen hielten sich an die Regeln, allen war der Ernst der Lage bewusst. Doch mittlerweile ist – gerade durch die umfangreiche Lockerung – die Einsatzbereitschaft der Bevölkerung deutlich geringer. Damit ist es für die Politik deutlich schwieriger geworden, neue Massnahmen einzuführen.

Taskforce-Experte Marcel Tanner warnte angesichts steigender Zahlen in Genf: «Ein neuer regionaler oder landesweiter Lockdown wäre fatal – sozial wie wirtschaftlich.» Solange sich nichts ändert, ist ein Sinken der Zahlen jedoch nicht absehbar.

Hansjakob Furrer, Chefarzt der Infektiologie am Berner Inselspital, warnt dementsprechend vor Untätigkeit: «Wenn sich jetzt nichts ändert, dann habe ich Angst, dass wir bald wieder an einem Punkt sind, wo wir sagen müssen: Jetzt ist es zu viel.»

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