Ein Jahr nach EU-Austritt: Brexit als «Elephant in the Room»
Über das Für und Wider wird kaum noch gesprochen. Dabei sind die negativen Folgen des Brexit unübersehbar. Zugleich droht das Verhältnis zu den europäischen Nachbarn immer schlechter zu werden.
Das Wichtigste in Kürze
- «Einen erstaunlichen Moment der Hoffnung» und «eine neue Ära der freundschaftlichen Kooperation zwischen der EU und Grossbritannien» hatte der britische Premier Boris Johnson zum Austritt seines Landes einläuten wollen.
Mit dem an Heiligabend 2020 in letzter Minute erreichten Handelspakt zwischen London und Brüssel konnten die schlimmsten Brexit-Folgen abgemildert werden. Doch knapp ein Jahr nach dem Ablauf der Übergangsphase sieht die Bilanz des britischen EU-Austritts alles andere als gut aus.
Kaum ein Versprechen der Brexit-Befürworter hat sich erfüllt. Stattdessen tun sich überall Probleme auf. Und die Beziehung zu den Nachbarn auf dem Kontinent erreicht immer neue Tiefststände. Der Brexit, so scheint es, ist zum «Elephant in the Room» geworden - der unübersehbaren Ursache verschiedenster Schwierigkeiten, die aber in Grossbritannien keiner beim Namen nennen will. Der Rücktritt des Brexit-Ministers David Frost vor einigen Tagen wird daher auch als Eingeständnis des Scheiterns interpretiert. Eine Übersicht:
Migration
Einwanderung war eines der bedeutendsten Themen im Wahlkampf vor dem Brexit-Referendum. Man wolle wieder die Kontrolle über die eigenen Grenzen zurückgewinnen, so der Slogan der Brexiteers. Tatsache ist aber, dass inzwischen mehr Migranten über den Ärmelkanal illegal ins Vereinigte Königreich einreisen als je zuvor. In diesem Jahr waren es allein bis Anfang Dezember etwa 26.000 - mehr als dreimal so viele wie im gesamten Jahr 2020.
Zurückgeschickt werden können sie kaum, denn der entsprechenden Vereinbarung gehört Grossbritannien nach dem Vollzug des Brexits zum vergangenen Jahreswechsel nicht mehr an. Das Bootsunglück mit 27 Toten im Ärmelkanal Ende November warf ein Schlaglicht auf die Krise. Die Regierung reagierte mit einer Verschärfung der Asylgesetzgebung und Plänen, sich den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu entziehen.
Verschärfte Einwanderungsregeln verhindern zudem, dass dringend benötigte Fachkräfte wie Lastwagenfahrer ins Land kommen. Knappheiten bei Lebensmitteln und Kraftstoff, die Grossbritannien im Sommer im Griff hielten, wurden von der Regierung als globales Problem abgetan. Warteschlangen an den Tankstellen und teilweise komplett leer gefegte Regale im Supermarkt wie in Grossbritannien gab es jedoch in anderen europäischen Ländern nicht.
Streit um Nordirland
Das Dauer-Streitthema Nordirland belastet die Beziehungen mit Brüssel, Dublin und sogar Washington. London will die mühsam im Brexit-Abkommen ausgehandelte Regelung, die Nordirland einen Sonderstatus zuweist, kippen oder zumindest drastisch aufweichen. Zeitweise war deswegen sogar von einem Handelskrieg die Rede.
Kurz vor Weihnachten schlugen die Briten dann etwas sanftere Töne an und zeigten sich von der pragmatischeren Seite. Ob das von Dauer sein würde, war aber unklar. Die fortan mit der Beziehung zur EU beauftragte Aussenministerin Liz Truss betonte, die Position habe sich nicht geändert und drohte erneut damit, Teile des sogenannten Nordirland-Protokolls ausser Kraft zu setzen.
Das Vertrauen in die Regierung von Premierminister Johnson jedenfalls scheint in Brüssel schon seit längerem auf einem Tiefpunkt angelangt. «Die Regierung Johnson hat in den letzten Monaten durch ihr aggressives und konfrontatives Auftreten viel dafür getan, ihren Vertrauenskredit in Brüssel und den EU-Hauptstädten weitgehend aufzubrauchen», sagte ein EU-Diplomat der Deutschen Presse-Agentur. Eine Meinung, mit der er nicht allein ist.
Bilaterale Verhältnisse zu Paris und Berlin
Der Brexit hat das Verhältnis zwischen den Nachbarn Frankreich und Grossbritannien arg beschädigt. Da war etwa das monatelange Gezerre um nicht erteilte Fischereilizenzen für französische Fischer und auch Vorwürfe aus London, Paris nehme es mit den Kontrollen an seiner Küste nicht genau genug, um die Fahrten von Migranten zu verhindern. Im Élyséepalast herrscht ohnehin Unmut über den von den USA und Grossbritannien zu Fall gebrachten U-Boot-Deal zwischen Frankreich und Australien.
Auch in Berlin hat man die Faxen aus London dicke, wie es scheint. Der damalige EU-Staatsminister Michael Roth (SPD) machte das jüngst bei seinem letzten Brüssel-Auftritt vor dem Regierungswechsel mehr als deutlich. Die «lieben Freunde in London und in Grossbritannien» sollten jetzt bitte mal «zur Besinnung» kommen, sagte er zum Streit um das Nordirland-Protokoll. Man wolle «verdammt noch mal partnerschaftlich und freundschaftlich zusammenarbeiten». Dazu sei notwendig, dass man nicht immer darüber streiten müsse, was man eigentlich verabredet habe.
Was die Menschen denken
Im Schnitt der Umfragen ist Grossbritannien hinsichtlich der EU-Mitgliedschaft genauso gespalten wie zur Zeit des Brexit-Referendums 2016. Ungefähr die Hälfte der Briten befürwortet eine Rückkehr in die Europäische Union, fast genauso viele wollen davon nichts wissen. Eindeutiger ist es jedoch, wenn die Frage lautet, ob der Austritt im Rückblick ein Fehler war. Hier hat sich seit Längerem eine Mehrheit gebildet, die den Schritt bereut.
Erstaunlich sei das, weil keine der Oppositionsparteien den Brexit wirklich in Frage stelle, sagt der britische Experte John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow. Die Menschen auf beiden Seiten des Streits seien aber noch immer von ihrer ursprünglichen Auffassung überzeugt. «Die Glut ist noch immer da, dass diese Debatte wieder aufflammen könnte», so der Wissenschaftler kürzlich in einem Podcast der Denkfabrik What UK thinks.
Die Opposition
Tatsächlich meiden die britischen Oppositionsparteien das Thema Brexit weitgehend. Zu sehr ärgerten sie sich nach der vergangenen Parlamentswahl, als Johnson mit seinem Slogan «Get Brexit Done» (etwa: «Lasst uns den Brexit durchziehen») einen massiven Wahlsieg einfuhr. Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Partei kündigte daher an, man werde nicht für den Wiedereintritt in die EU werben. Man wolle stattdessen dafür sorgen, dass der Brexit funktioniere. Wie das gehen soll, ist im Detail noch nicht klar.
Der Rechtswissenschaftler Holger Hestermeyer vom Londoner King's College empfiehlt, erst einmal das Vertrauensverhältnis wieder herzustellen. «Zur Lösung bedarf es guten Willens, Vertrauens und neuer Wege des Austausches», sagt Hestermeyer im Gespräch mit der dpa und fügt hinzu: «An ersteren fehlt es zunehmend. Umso dringlicher muss an neuen Formen der Zusammenarbeit gearbeitet werden.»