Elif Shafak führt Lesende vom Tigris an die Themse - und zurück
Ohne Wasser sind wir nichts, weiss die britisch-türkische Autorin Elif Shafak. In ihrem neuen Roman «Am Himmel die Flüsse» hat sie die Lebenskraft des Wassers ins Zentrum gestellt – und die Unfähigkeit des Menschen, diese zu erhalten.
Es beginnt mit der Ruhe vor dem Sturm. In Ninive braut sich ein Unwetter zusammen, das um das Jahr 650 v. Chr. die mächtige Stadt in Mesopotamien unter Wasser setzen wird. Ein einzelner, erster Wassertropfen löst sich und ist lange unsicher, wo er landen soll. Er fällt direkt auf den Kopf des mächtigen Herrschers Assurbanipal und muss, ehe er verdunstet, miterleben, dass dieser ebenso gelehrt wie grausam ist. Schon der Beginn des fast 600-seitigen Romans zeigt, dass Shafak kein modernes fragmentiertes Erzählen im Sinn hat, bei dem alles mit allem verbunden, gleichzeitig aber der grosse Zusammenhang zerbrochen ist, sondern ganz klassisch auf den langen poetischen Atem setzt.
Verbindendes Element dreier Handlungsstränge, die Mitte des 19. Jahrhunderts und im Jahr 2018 am Ufer der Themse sowie 2014 am Ufer des Tigris spielen, ist das Wasser. Genauer gesagt: Dieser eine Wassertropfen, der nichts vergisst. Er landet 1840 in London als Schneeflocke im Mund des neugeborenen Arthur.
Arthur: «König der Abwasserkanäle»
Er wird den Geschmack, der ihn an Muttermilch erinnert, ebenso wie alles andere, das er erlebt, nie vergessen. Sein phänomenales Gedächtnis und sein universales Interesse an allem Schriftlichen ermöglicht dem geschundenen Buben einen Aufstieg aus den verdreckten Elendsquartieren in die Assyrien-Abteilung des British Museum.
Arthur wird zum «König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere» und zum Entschlüsseler des Gilgamesch-Epos, das in Keilschrift auf im Museumskeller gelagerten Tontafeln festgehalten ist. Eine Passage des Versepos fehlt. Getrieben vom Gedanken daran, genau diese fehlenden Tafeln vor Ort zu finden, bricht er ins Tigris-Tal auf und beginnt eine Grabungskampagne.
Er wird in einem jesidischen Dorf aufgenommen und trifft auf die anmutige Leila, deren Ururgrossenkelin Narin wir in einem anderen Erzählstrang parallel folgen, als sie rund 60 Jahre später mit ihrer Grossmutter aufbricht, um im heiligen Lalisch-Tal getauft zu werden, ehe das Ilısu-Staudammprojekt der türkischen Regierung alle Schätze von Natur und Kultur unter Wasser setzen wird.
Der Wassertropfen ist quasi immer dabei, auch als die Hydrologin Zaleekha ihre Ehe als gescheitert erklärt und in ein Hausboot an der Themse zieht. Dabei gerät sie in Konflikt mir ihrem reichen Onkel, der sie nach dem Tod ihrer Eltern, die bei einem gemeinsamen Campingurlaub in einer Sturzflut umkamen, grossgezogen hatte. Von den Plänen seiner Lieblingsnichte, sich das Leben zu nehmen, ahnt er nichts.
Bedeutung des Wassers
Auf dem Trockenen sitzt man als Leser nie, im Gegenteil. Ständig fliesst Neues mit ein. Sie habe jedes ihrer Themen, von der jahrhundertelangen grausamen Verfolgung der Jesiden als «Teufelsanbeter» bis zur Geschichte Mesopotamiens und von der Bedeutung des Wassers im Klimawandel über den Organ- und Raubkunsthandel bis zur Abwasser- und Seuchenproblematik im viktorianischen England, ausgiebig recherchiert, schreibt Shafak. Im Anhang gibt sie etliche Literaturempfehlungen und benennt den assyrologischen Autodidakten George Smith (1840-1876) als reales Vorbild ihres Arthur.
Dass die Autorin dieses viele Wissen in ihrem Roman auch unterbringen möchte, ist mitunter ein Problem des Buches. Immer wieder wirken ganze Passagen vollgestopft und überfrachtet, wird dem Erzählfluss soviel Material mitgegeben, dass er träge und trübe wird.
Gegen Ende jedoch erhöht die 52-Jährige, die seit vielen Jahren in London lebt und seither auf Englisch schreibt, das Tempo. Gewaltausbrüche wie der IS-Terror, in den Narin und ihre Grossmutter geraten, verändern die Geschichten, die am Ende zusammenfliessen, noch einmal deutlich.
Kraftvoll und zerstörerisch
Ist das nun mitreissend oder reisserisch? Jedenfalls über weite Strecken realitätsnahe. Elif Shafak möchte weniger Märchenerzählerin als Wahrsagerin sein. Und hält es wohl mit ihrem Arthur, dem die «sogenannte Zivilisation» wie «ein bevorstehendes Gewitter» vorkommt: «Kraftvoll, wandelbar und zutiefst zerstörerisch sprengt sie früher oder später ihre Grenzen und verschlingt in ihrer Unersättlichkeit alles.»