Die Zeit wird knapp für Grossbritannien und die EU: Wieder naht ein Austrittstermin, wieder kommen die Verhandlungen nicht vom Fleck. Aber jetzt nur nicht die Geduld verlieren, warnen EU-Politiker.
Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, während seiner Rede im Europäischen Parlament. Foto: Jean-Francois Badias/AP
Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, während seiner Rede im Europäischen Parlament. Foto: Jean-Francois Badias/AP - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Das EU-Parlament plädiert für einen weiteren Aufschub des Brexits, um einen chaotischen Bruch Ende Oktober abzuwenden.
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Die Abgeordneten stimmten heute in Strassburg mit grosser Mehrheit dafür.

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sprach erstmals offiziell von neuen «Verhandlungen» mit Grossbritannien. Anzeichen für einen baldigen Kompromiss mit London gibt es aber nicht. «Das Risiko eines No-Deal bleibt sehr real», sagte Juncker.

In der unklaren Lage sechs Wochen vor dem Brexit-Termin 31. Oktober treibt Schottland seine eigene Agenda voran. Regierungschefin Nicola Sturgeon sprach sich bei einem Besuch in Berlin für ein neues Unabhängigkeitsreferendum schon im nächsten Jahr aus. «Ich würde vorhersagen, dass Schottland in den nächsten Jahren unabhängig wird und zu einem unabhängigen Mitglied der EU wird», sagte Sturgeon. Die Schotten hatten beim Brexit-Referendum 2016 mehrheitlich gegen den EU-Austritt gestimmt, und Sturgeon stemmt sich gegen den harten Kurs des britischen Premierministers Boris Johnson.

Der Regierungschef will den EU-Austritt , ob mit oder ohne Austrittsvertrag. Das britische Parlament hat ihn eigentlich verpflichtet, entweder bis 19. Oktober eine Einigung mit der EU zu erzielen oder einen weitere Fristverlängerung bis Ende Januar zu beantragen. Den Aufschub schliesst Johnson allerdings aus - ohne zu sagen, wie das ohne Gesetzesbruch möglich sein soll. Stattdessen verbreitet er Zuversicht, ein Deal mit Brüssel werde beim EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober klappen.

Erstmals hatte Johnson am Mittwoch auch Kontakt mit dem Präsidenten des Europaparlaments, David Sassoli. In einem Telefonat lud er diesen zu einem Treffen nach London ein und betonte die Rolle der EU-Abgeordneten im Brexit-Prozess, wie das Parlament mitteilte.

Juncker äusserte sich weit weniger optimistisch als Johnson. «Ich bin nicht sicher, ob wir Erfolg haben werden, es bleibt wenig Zeit», sagte der Kommissionschef. «Aber ich bin sicher, dass wir es versuchen müssen.»

Konkret geht es immer und immer wieder um denselben Punkt: Johnson will die von der EU geforderte Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland streichen, den sogenannten Backstop. Demnach würde Grossbritannien so lange in der EU-Zollunion bleiben, bis eine bessere Lösung gefunden ist. Johnson scheut die enge Bindung an die EU, die seinem Land eine eigene Handelspolitik verwehren würde.

Dann soll London etwas Besseres vorschlagen, ist nun die Linie der EU. «Ich habe keine emotionale Bindung an den Backstop», sagte Juncker. Nur die damit verbundenen Ziele müssten erfüllt werden. Deshalb habe er Johnson gebeten, schriftlich Alternativen vorzulegen. Die Verhandlungen sollten auf politischer Ebene geführt werden, also von EU-Chefunterhändler Michel Barnier.

Barnier selbst sagte ernsthafte Verhandlungen zu und warnte gleichzeitig noch einmal eindrücklich vor den erheblichen Folgen eines Brexits ohne Vertrag. Befürchtet werden unter anderem Versorgungsengpässe in Grossbritannien und eine Konjunkturdelle, aber auch Jobverluste in Deutschland, wie der Industrieverband BDI in Erinnerung rief.

BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang warnte deshalb vor einem Austritt ohne Vertrag, aber auch vor einer kurzfristigen weiteren Verschiebung ohne klares Ziel. Eine mögliche Fristverlängerung vergrössere die Unsicherheit für die Unternehmen.

Die Grünen-Abgeordnete Terry Reintke räumte in der Debatte im Europaparlament ein, viele Menschen hätten inzwischen die Nase voll von dem Thema. Doch wäre es ein «Alptraum», wenn der Aufschub nicht gewährt würde. Nötig sei mehr Zeit, um einen Ausweg aus der Blockade zu finden.

Die sozialdemokratische Fraktionschefin Iratxe García Pérez sagte: «Wenn Grossbritannien noch mehr Zeit braucht oder ein neues Referendum durchführen möchte, können sie auf unsere Unterstützung zählen.» Und auch der Fraktionschef der Christdemokraten, Manfred Weber, meinte: «Die Bürger in Grossbritannien sollten über die Zukunft entscheiden.» Das EU-Parlament stimmte dann mit 544 zu 126 Stimmen für eine Resolution, die einen weiteren Aufschub in Aussicht stellt.

Johnson steht wegen des offenen Konflikts mit seinem Parlament in Grossbritannien massiv unter Druck. Am Dienstag hatte vor dem obersten britischen Gericht die Anhörung im Streit über die von Johnson auferlegte Zwangspause des Parlaments begonnen. Kritiker sagen, die überlange Sitzungsunterbrechung bis 14. Oktober solle die Abgeordneten im Brexit-Streit kalt stellen.

Der Regierungsanwalt James Eadie argumentierte am Mittwoch vor Gericht, die Frage sei Sache der «hohen politischen Sphäre», die sich der Gerichtsbarkeit entziehe. Eine Entscheidung des Gerichts wird für Freitag erwartet.

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