Rein rechnerisch sitzt in jeder Schulklasse in Deutschland ein Kind, das sein Leben einer künstlichen Befruchtung verdankt. Es könnten womöglich noch mehr sein, wenn neuere Methoden auch in Deutschland angewendet werden dürften. Woran scheitert das?
Intrazytoplasmatische Spermieninjektion in einem Magdeburger Kinderwunschzentrum. Foto: Klaus-Dietmar Gabbert
Intrazytoplasmatische Spermieninjektion in einem Magdeburger Kinderwunschzentrum. Foto: Klaus-Dietmar Gabbert - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Endlich schwanger! Darauf hoffen jedes Jahr Tausende ungewollt kinderlose Paare in Deutschland.
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Für einen Teil von ihnen sind Besuche im Kinderwunschzentrum inzwischen Alltag.

Etwa drei Prozent der in Deutschland geborenen Kinder kommen jährlich nach künstlicher Befruchtung zur Welt, mehr als 275.000 Menschen seit 1997. Bei einem Teil der Männer und Frauen, die gern ein Baby hätten, bleiben die Versuche vergeblich - eine grosse emotionale Belastung.

Nach Schätzungen von Experten zieht es mehrere Tausend deutsche Paare mit Kinderwunsch jedes Jahr in Kliniken im Ausland. Dort sind Methoden möglich, die in Deutschland mit seinem Embryonenschutzgesetz von 1990 verboten sind: Man kann sich etwa auf eigene Kosten gespendete Eizellen einsetzen lassen oder eine Leihmutter finden. Diese Wege können bei Unfruchtbarkeit zum eigenen Kind verhelfen. Aber auch für homosexuelle Paare eröffnen sich Optionen.

«Die deutsche Gesetzgebung engt unsere Möglichkeiten ein, weil sie unter Strafe stellt. Das ist in diesem Bereich längst überholt von der Wissenschaft», sagte Ulrich Hilland, Vorstand des Bundesverbands Reproduktionsmedizinischer Zentren, auf dpa-Anfrage. Im Vergleich zu anderen Ländern sei die Situation in Deutschland besonders «repressiv». Politisch werde das Thema seit 20 Jahren ausgesessen.

Vor diesem Hintergrund hat eine Arbeitsgruppe der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) und der Akademieunion in Berlin Empfehlungen für ein Fortpflanzungsmedizingesetz vorgestellt. Auch die sich häufenden Gerichtsurteile zum Thema zeigten, dass die bisherige rechtliche Regelung «unzureichend» sei, sagte die an den Empfehlungen beteiligte Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Unimedizin Göttingen, Claudia Wiesemann.

Das Embryonenschutzgesetz sei zu restriktiv ausgerichtet auf den Schutz befruchteter Eizellen in vitro (ausserhalb des Körpers der Frau) und bringe Gefahren für Embryonen in vivo (für das Kind in der Schwangerschaft) und für die schwangere Frau, sagte die Professorin, die auch stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats ist. Eine Auswahl der Wissenschaftler-Empfehlungen:

KOSTEN ÜBERNEHMEN: Medizinisch gebotene Kinderwunschbehandlungen mit Erfolgsaussichten sollten nach Einschätzung der Experten komplett von der Versichertengemeinschaft getragen werden. Damit könnten sich vermutlich mehr Paare als bisher behandeln lassen. Bisher hängen Zuschüsse oder Kostenübernahmen durch Krankenkassen von vielen Faktoren ab. Wiesemann kritisierte, dass der unerfüllte Kinderwunsch bei der Frage der Kostenerstattung wie eine private Lifestyle-Angelegenheit angesehen werde - und nicht «als Ausdruck von Krankheit oder vielleicht sogar von körperlicher Behinderung».

WENIGER Zwillinge: Bisher werden Frauen in Deutschland häufig zwei oder drei Embryonen übertragen. Damit werden jedoch Mehrlingsgeburten wahrscheinlicher. «Wir haben derzeit ungefähr 20 Prozent Zwillinge bei künstlicher Befruchtung», sagte Hilland, der nicht an den Empfehlungen beteiligt war. Dies gehe mit Gesundheitsrisiken für Mutter und Kind einher. In anderen Ländern wählen Ärzte aus mehreren Embryonen nur denjenigen mit den grössten Entwicklungschancen aus. Die Autoren plädieren dafür, dieses Verfahren - elective Single-Embryo-Transfer genannt - zu erlauben.

EIZELLSPENDEN ERMÖGLICHEN: «Es ist ein drängendes Problem, dass die Samenspende in Deutschland erlaubt ist, die Eizellspende aber nicht. Das erzeugt Ungerechtigkeiten bei der Behandlung von Frauen», sagte Wiesemann. Während Männer, die etwa nach einer Krebsbehandlung unfruchtbar sind, mit gespendeten Spermien eine Familie gründen könnten, bleibe betroffenen Frauen diese Option verwehrt. Die Gesundheitsrisiken für Spenderinnen seien mittlerweile gering. Erfahrungen in Ländern wie England hätten gezeigt, dass einer unangemessenen Kommerzialisierung ein Riegel vorgeschoben werden kann, so Wiesemann.

KLARHEIT BEI EMBRYOSPENDEN: Mediziner lassen mehr Embryonen entstehen als nachher übertragen werden, «weil wir wissen, dass nicht alle entwicklungsfähig sind», wie Hilland sagte. Dabei gebe es aber auch Fehleinschätzungen. Solche überzähligen Embryonen können gespendet werden, bislang läuft das über einen privaten Verein. «Es ist klar Aufgabe des Staates, hier Regelungen zu finden», so Hilland. Anders als überzählige Embryonen dürfen Vorkernstadien (Eizellen, in die eine Samenzelle eingedrungen ist oder eingebracht wurde) laut Bericht nicht gespendet werden. Die Akademie-Autoren sprechen sich mit Blick auf die Spende für eine rechtliche Gleichbehandlung aus.

FAZIT: «Die Komplexität der Materie ist kein Grund, eine gesetzliche Neuregelung weiter aufzuschieben», schreiben die Wissenschaftler. Man erhoffe sich, zumindest eine Diskussion über Fortpflanzungsmedizin in den Parteien anzustossen, sagte Wiesemann. Ob das am Ende zu Mehrheiten für ein neues Gesetz führe, sei offen. «Aber dieser Diskussion weiterhin aus dem Weg zu gehen, das fände ich sehr problematisch.»

Auf Anfrage reagierte das Bundesgesundheitsministerium mit einer allgemein gehaltenen Stellungnahme. «Der Bundesregierung ist es ein grosses Anliegen, dass alle ungewollt kinderlosen Paare gleichermassen bei der Inanspruchnahme von Kinderwunschbehandlungen unterstützt werden», teilte ein Sprecher mit. So strebe der Bund etwa an, dass betroffenen Paaren die im Rahmen des Bundesprogramms gewährte finanzielle Unterstützung «bundesweit und einheitlich» zur Verfügung stehe. Keine Antworten gab es auf die Fragen, wie das Ministerium die aktuell zur Verfügung stehenden Massnahmen für Kinderwunschpaare bewertet und ob diese als ausreichend und zeitgemäss angesehen werden.

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