«Historischer Schuldspruch» - Lebenslang für Staatsfolter in Syrien
Durch das Völkerrecht wurde für Anwar R. eine lebenslängliche Haft verhängt. Mit Staatsfolter in Syrien hat er ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.
Das Wichtigste in Kürze
- In Koblenz wurde Anwar R. wegen Staatsfolter in Syrien verurteilt.
- Er hat ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.
- Er wurde am Donnerstag zu lebenslanger Haft verurteilt.
Das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz hat ein viel beachtetes Urteil um Staatsfolter in Syrien gesprochen. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass der 58-jährige Anwar R. als Vernehmungschef in einem Gefängnis in der Hauptstadt Damaskus für die Folter von mindestens 4000 Menschen verantwortlich war. Ausserdem wurde der Tod von 27 Menschen ihm zugesprochen und am Donnerstag zu lebenslanger Haft verurteilt.
Es war laut Bundesanwaltschaft der weltweit erste Strafprozess um Staatsfolter in dem Bürgerkriegsland. Entsprechend gross war das Echo auf den Richterspruch. Die Verteidigung kündigte Revision an.
Das Gericht befand den Angeklagten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig. Die seien in Form von Tötung, Folter, schwerwiegender Freiheitsberaubung, und Vergewaltigung geschehen. Auch sexuelle Nötigung in Tateinheit unter anderem mit Mord in 27 Fällen wird angerechnet.
Sexuelle Gewalt, um die Gefangenen zu erniedrigen
Die rund 4000 Gefolterten seien im Zeitraum von Ende April 2011 bis Anfang September 2012 im Gefängnis inhaftiert gewesen. Dieses ist einer Vernehmungsunterabteilung des Syrischen Allgemeinen Geheimdienstes in Damaskus angeschlossen.
Sie seien mit Schlägen, Kabeln oder Stöcken, Tritten und Elektroschocks gefoltert worden. Um Gefangene zu erniedrigen, sei auch sexuelle Gewalt eingesetzt worden.
27 Inhaftierte seien in dem Zeitraum an den Folgen von Folter, anderen Misshandlungen und Haftbedingungen gestorben. Anwar R. habe die Abläufe in dem Gefängnis überwacht und massgeblich bestimmt.
Er habe die Taten zwar nicht persönlich ausgeführt, ihm seien sie aber aufgrund «seiner Entscheidungs- beziehungsweise Befehlsgewalt» zuzurechnen. Daher sei er als Mittäter verurteilt worden.
«Intellektueller und leistungsstarker Technokrat»
Die Vorsitzende Richterin Anne Kerber sagte, der Angeklagte habe sich als ein «zuverlässiger, intellektueller und leistungsstarker Technokrat» erwiesen. Dies, bei seiner Arbeit im Geheimdienst. Er habe von den Folterungen und Todesfällen gewusst. Er habe sich entschieden, das Regime zu unterstützen, auch im Bürgerkrieg, auch wegen der sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegschancen für ihn.
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, begrüsste den «historischen Schuldspruch». Sie forderte andere Staaten auf, Ermittlungen und die strafrechtliche Verfolgung gravierender Menschenrechtsverletzungen voranzutreiben. Der Prozess in Koblenz habe den Fokus wieder darauf gelenkt, wie brutal die Menschenrechte in Syrien verletzt worden seien.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sieht das Urteil als «Pionierarbeit» und hofft ebenfalls auf Gerichte in anderen Staaten. «Ich würde es begrüssen, wenn andere Rechtsstaaten diesem Beispiel folgen. Wer Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, darf nirgendwo sichere Rückzugsräume finden», sagte er.
In den Foltergefängnissen des Assad-Regimes sei entsetzliches Unrecht geschehen. «Hierauf in der Sprache des Rechts eine Antwort zu geben, ist die Verantwortung der gesamten Staatengemeinschaft.»
Koblenzer Prozess mit über 80 Zeugen
Der im April 2020 begonnene Koblenzer Prozess endete am 108. Verhandlungstag. Das Verfahren mit über 80 Zeugen sowie einer Reihe von Folteropfern als Nebenkläger hatte international Aufsehen erregt.
Der Angeklagte hatte sich als unschuldig bezeichnet, seine Verteidigung auf Freispruch plädiert. Nun will Anwalt Yorck Fratzky in Revision beim Bundesgerichtshof gehen, wie er ankündigte.
Anwar R. sei stellvertretend für das Regime verurteilt worden. «Die Verteidigung hat diese persönliche Schuld nicht gesehen.»
Die Bundesanwaltschaft hatte lebenslange Haft und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gefordert. Das hätte eine Haftentlassung nach 15 Jahren nahezu ausgeschlossen.
Letzteres stellte das Gericht nicht fest. Nichtsdestotrotz nahm Oberstaatsanwalt Jasper Klinge das Urteil positiv auf und nannte es «ein wichtiges Signal für die Opfer». «Der Angeklagte war Teil des Systems», sagte Klinge.
Weiterhin Menschenrechtsverletzungen verfolgen
Nebenklage-Anwalt Patrick Kroker, der mehrere Folteropfer vertrat, sagte, es sei wichtig, weitere Menschenrechtsverletzungen in Syrien strafrechtlich zu verfolgen. Das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht erlaubt es, hierzulande Kriegsverbrechen von Ausländern in anderen Staaten zu ahnden.
Anwar R. wurde nach seiner Flucht nach Deutschland von Folteropfern erkannt und 2019 in Berlin festgenommen. Amnesty International äusserte die Hoffnung, dass weitere Prozesse nach dem Weltrechtsprinzip angestrengt werden.
Die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen, Lamya Kaddor, sagte: «Die lebenslange Haftstrafe für einen höherrangigen Folterknecht des syrischen Regimes ist ein Meilenstein des Völkerrechts. Es ist ein weiterer Schlag des Rechtsstaats gegen Straflosigkeit von Kriegsverbrechern.» Kaddor verwies auf weitere Haftbefehle gegen hochrangige syrische Verantwortliche, die in Deutschland vorliegen.
Rafik Schami: «Von der eigenen Geschichte lernen»
Der in Syrien geborene Schriftsteller Rafik Schami sagte der Zeitung «Rheinpfalz»: «Hier hat ein Land gezeigt, wie man von der eigenen Geschichte lernen kann. Man hat solchen kaltblütigen Mördern gezeigt, dass sie, auch wenn sie flüchten, bestraft werden können.»
Der Menschenrechtsaktivist Omar al-Schughri, der in Syrien selbst gefoltert wurde, sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Der symbolische Wert des Urteils ist ein Beweis dafür, wie ein Trauma uns antreibt. Dinge wieder aufzubauen, von denen wir nie dachten, dass sie jemals erreicht werden könnten. Unsere Vergangenheit ist eine Waffe gegen unsere Feinde.»
Das Urteil werde nicht das gebrochene Herz jeder Mutter heilen, deren Sohn unter Folter getötet worden sei. Auch Opfer werden nicht zu ihren Familien zurückgebracht. «Aber es gibt uns die Hoffnung, dass das Regime fallen und wir frei sein werden.»
Deutsche Justiz gilt als international vorbildlich
«Die Arbeit der deutschen Justiz im Bereich des Völkerstrafrechts gilt international als vorbildlich.» Das befand der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Sven Rebehn. Es sei extrem aufwendig, im Ausland verübte Verbrechen vor deutschen Gerichten aufzuklären. «Umso wichtiger ist es, dass die neue Bundesregierung sich jetzt vorgenommen hat, die Bundesanwaltschaft für diese Aufgabe weiter zu verstärken.»
Der Generalsekretär des deutschen Ablegers der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, Markus N. Beeko, erklärte, die Beweisaufnahme im Fall R. sei eine wertvolle Basis für den nächsten Prozess nach dem Völkerstrafgesetzbuch zu Syrien.
Der startet am kommenden Mittwoch vor dem Oberlandesgericht Frankfurt gegen einen syrischen Arzt. Ihm wird vorgeworfen, 2011 und 2012 in einem Militärkrankenhaus und einem Gefängnis des Militärischen Geheimdienstes Menschen gefoltert zu haben.