Kiew und Europa im Konflikt mit Russland auf sich gestellt
Nach dem Streit im Weissen Haus sinkt die Hoffnung in Europa, dass auf die amerikanische Unterstützung im Konflikt gegen Russland kein Verlass ist.
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Das Wichtigste in Kürze
- Der Streit im Weissen Haus vor laufenden Kameras hat die Gemüter in Europa aufgewühlt.
- Selenskyj setzt nach dem Zerwürfnis mit Trump seine Hoffnungen umso mehr auf Europa.
- In Moskau ist dagegen die Freude über Trump gross.
Nach dem Streit vor laufenden Kameras drängt die Zeit: Europa ist im Ukraine-Krieg noch mehr gefordert und muss notfalls eigenständig handeln. Bei einem Sondergipfel zum Ukraine-Krieg am Sonntag muss sich Europa neu sortieren.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj setzt nach dem Zerwürfnis mit US-Präsident Donald Trump vor allem auf die Europäer in der Verteidigung gegen Russlands Invasion.
Gleichzeitig ist Deutschland nach der Bundestagswahl unter Zeitdruck – Union und SPD müssen sich zügig auf eine Koalition und eine handlungsfähige Regierung verständigen.
Streit mit den USA schwerer Schlag für Ukraine
Die USA waren bisher der Hauptunterstützer der Ukraine in Form von Waffenlieferungen und Hilfsgeldern bei deren seit mehr als drei Jahren andauernden Abwehr der russischen Invasion. Auf eine Fortsetzung der Unterstützung kann sich das schwer vom Krieg gezeichnete Land, das um seine Existenz kämpft, nun nicht mehr verlassen.
Trump hatte Selenskyj am Freitag im Weissen Haus scharf zurechtgewiesen und ihn aufgefordert, Frieden anzustreben. Der Ukrainer sei undankbar, weil er im russischen Angriffskrieg nur dank US-Waffen so lange durchgehalten habe. Die Gespräche wurden abgebrochen. Selenskyj verliess das Weisse Haus vorzeitig, ohne ein geplantes Abkommen über den US-Zugang zu ukrainischen Rohstoffen zu unterzeichnen. Später schrieb Trump in seinem sozialen Netzwerk Truth Social, dass Selenskyj nicht bereit sei für einen Frieden. Wenn er dazu bereit sei, könne er wiederkommen.
Jetzt kommt es auf die Europäer an
Die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas fand nach dem Eklat ungewöhnlich deutliche Worte. «Heute ist klar geworden, dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht», schrieb sie auf der Plattform X. «Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen.» Aber kann Europa diese Führungsrolle übernehmen?
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Über die neue Situation und neue Hilfe für die Ukraine soll am 6. März bei einem Sondergipfel in Brüssel gesprochen werden. Im Idealfall könnten die 27-EU-Staaten dort konkret sagen, wie man militärisch zusammenstehen will.
Orban lobt Trump als «mutig»
Dabei könnte es jedoch zu Schwierigkeiten kommen, denn in der EU müssen weitreichende Entscheidungen einstimmig getroffen werden. Mit Ungarns Regierungschef Viktor Orban sitzt allerdings ein Staatschef mit am Tisch, der eng an Trumps Linie angelehnt ist. Mehrfach blockierte er bereits EU-Hilfen für die Ukraine.
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Während die meisten EU-Staats- und Regierungschefs Selenskyj ihre Solidarität aussprachen, lobte Orban direkt nach dem Eklat den US-Präsidenten. «Starke Männer machen Frieden, schwache Männer führen Krieg. Heute hat sich Präsident Donald Trump mutig für den Frieden eingesetzt», schrieb er auf X.
Nukleare Absicherung aus Frankreich und Grossbritannien?
Ein möglicher Rückzug der USA aus Europa könnte auch zu der Frage führen, ob der amerikanische Nuklearschirm bestehen bleibt. Dabei rücken die Atommächte Grossbritannien und Frankreich in den Fokus. CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz forderte bereits Gespräche mit den beiden Ländern über eine europäische nukleare Absicherung. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat das mehrfach vorgeschlagen, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnte das aber ab. Ein solcher Schritt würden jedoch erhebliche Investitionen erfordern, da britische und französische Atomwaffen bisher nur als Ergänzung zur US-Abschreckung innerhalb der Nato dienen.
Milliarden fliessen vorerst weiter
Im Interview des US-Senders Fox sagte Selenskyj, dass es ohne die USA schwer werde für die Ukraine, im Kampf gegen den russischen Angriffskrieg zu bestehen. Die Finanzierung des Staatshaushalts gilt zumindest für dieses Jahr durch längerfristige Verpflichtungen der internationalen Partner als gesichert.
Parallel zum Eklat im Weissen Haus gab es daher auch gute Nachrichten für Kiew. In Warschau einigten sich der Internationale Währungsfonds und die Ukraine auf die Fortsetzung eines vierjährigen IWF-Programms mit einer Gesamtsumme von umgerechnet etwas mehr als 15 Milliarden Euro.
«Die effektive und abgestimmte Zusammenarbeit mit dem IWF ist ein Schlüsselelement in der Unterstützung der finanziellen Stabilität der Ukraine in unsicheren Zeiten», sagte Finanzminister Serhij Martschenko laut Mitteilung.
Kiew erwartet daraus noch Zahlungen von etwa 5,4 Milliarden Euro, bei einem jährlichen Finanzierungsbedarf für den ukrainischen Haushalt von knapp 40 Milliarden Euro. Das IWF-Programm ist dabei den Angaben zufolge Teil eines internationalen Unterstützungspakets für die Jahre 2023 bis 2027 in Höhe von umgerechnet etwas mehr als 142 Milliarden Euro.
Selbst bei einem kompletten Ausfall US-amerikanischer Überweisungen, die bisher nach Angaben des ukrainischen Finanzministeriums im Schnitt bei etwa 10 Milliarden Euro im Jahr lagen, kann Kiew seine Ausgaben daher noch eine Weile finanzieren.