Israel steuert auf kompletten Corona-Lockdown zu
Dem Gesundheitssystem in Israel droht die Überlastung. Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu greift zu härteren Massnahmen. Doch das Vertrauen der Bevölkerung in ihren Kurs ist rapide gesunken, wie eine Umfrage zeigt.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus bleibt in Israel äusserst hoch.
Wie das Gesundheitsministerium am Donnerstagmorgen mitteilte, wurden am Vortag 6808 neue Fälle registriert. Das ist nach den 6995 Infektionen vom Dienstag der zweithöchste jemals verzeichnete Wert.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat angesichts dieser Zahlen eine Verschärfung der Lockdown-Bestimmungen angekündigt. Der Regierungschef sagte in einer Videobotschaft, der seit vergangenen Freitag geltende, ohnehin schon strenge Lockdown werde ab kommenden Freitag für zwei Wochen in einen «kompletten Lockdown» umgewandelt. Details nannte der Regierungschef zunächst nicht.
Nach Medienberichten betreffen die Restriktionen unter anderem Gebete und Demonstrationen. Das Kabinett muss den Massnahmen noch zustimmen. Der Schritt erfolgt kurz vor dem höchsten, am Sonntag beginnenden jüdischen Feiertag Jom Kippur. Einer Umfrage zufolge hat das Vertrauen in die Corona-Politik von Netanjahu stark abgenommen.
Der 70-Jährige äusserte sich vor dem Hintergrund langer Beratungen des sogenannten Coronavirus-Kabinetts. Berichten zufolge waren mögliche Einschränkungen für das Demonstrationsrecht ein Hauptstreitpunkt der Beratungen - beziehungsweise die Koppelung solcher Restriktionen an Beschränkungen für Gebete an Jom Kippur. Netanjahu soll darauf gedrungen haben. «Wenn wir das Haus verlassen dürfen, um zu demonstrieren, dann wird es den Menschen auch möglich sein, an den Strand zu gehen und es Protestieren zu nennen», sagte er laut «Jerusalem Post» während der Sitzung. Gegen Netanjahu gibt es seit Wochen Proteste, auch nahe seiner Residenz in Jerusalem. Strengreligiöse im Parlament gelten als enge Verbündete Netanjahus.
Am Dienstag war zugleich die Marke von 200.000 bekannten Infektionen seit Ausbruch der Pandemie überschritten worden. Der Wert von 100.000 Fällen war in Israel erst am 20. August erreicht worden. Deutschland hat etwa neunmal so viele Einwohner wie Israel, dort wurden zuletzt 2143 Neuinfektionen binnen 24 Stunden ausgewiesen.
Seit Freitag gilt in Israel ein Lockdown. Die Menschen müssen sich mit Massnahmen wie Schulschliessungen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit arrangieren. Die Regierung will so eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern. Ein Auslöser war die Warnung von Krankenhausleitern vor drohenden Kapazitätsgrenzen. Kliniken mussten bereits Corona-Patienten zurückweisen, weil kein Platz für ihre Behandlung war. Die Zeitung «Haaretz» zitierte einen Vertreter des Rettungsdienstes Magen Adom, wonach das Verteilsystem unter den Kliniken an Grenzen stosse. Das Gesundheitsministerium ordnete an, dass ab sofort Sanitäter zur Unterstützung des Personals in Kliniken eingesetzt werden sollen.
Die Opposition kritisiert den erneuten Lockdown scharf. Sie wirft der Regierung dafür Versagen vor. Die Krise hat der Wirtschaft des Landes schwer zugesetzt, viele Menschen sind arbeitslos. Seit Wochen gibt es wöchentlich Proteste gegen Netanjahu mit jeweils tausenden Teilnehmern. Die Demonstranten werfen ihm Fehler in der Corona-Politik vor, sie sehen ihre Lebensgrundlage bedroht. Netanjahu wird von ihnen aber auch kritisiert, weil gegen ihn ein Korruptionsprozess läuft und er aus ihrer Sicht deswegen zurücktreten sollte. Der 70-Jährige bestreitet die Vorwürfe in dem Verfahren.
Nach einer am Mittwoch veröffentlichten Umfrage des Israel Democracy Institute haben nur noch 27 Prozent der Befragten Vertrauen in die Bemühungen Netanjahus in der Corona-Krise. Anfang April lag der Wert bei 57,5 Prozent.
Die Pandemie verlief in Israel zunächst glimpflich, auch wegen eines strikten Kurses von Netanjahus Regierung. Nach raschen, von Experten kritisierten Lockerungen im Mai schnellten die Zahlen jedoch in die Höhe. Die Regierung appellierte ihrerseits wiederholt an die Menschen, sich an Vorschriften wie Abstandsregeln zu halten. Am stärksten betroffen vom jüngsten Anstieg der Zahlen sind arabische und ultraorthodoxe jüdische Wohnviertel. Dort leben häufig grössere Familien auf engem Raum zusammen.