Oberwasser für Sánchez bei Spanien-Wahl
Vor der Wahl in Spanien macht man sich nicht nur im eigenen Land Sorgen um die Zukunft der Nation. Die viertgrösste Wirtschaft der Eurozone droht in die Sackgasse zu geraten. Daher bekommt ein Sozialist auch von ungewohnter Seite Rückendeckung.
Das Wichtigste in Kürze
- Pedro Sánchez scheint wieder einmal seinem Image als Stehaufmännchen alle Ehre zu machen.
Nur wenige Tage vor der Neuwahl des spanischen Parlaments sind die konservativen Rivalen des sozialistischen Ministerpräsidenten in einen heftigen Führungsstreit geraten.
Der zuletzt strauchelnde Regierungschef könnte nach Meinung von Beobachtern dadurch letztlich Oberwasser bei dem Wahlgang am heutigen Sonntag haben. «Sánchez wird immer grösser», titelte die Zeitung «El Periódico». Und «La Vanguardia» stellte fest, der «erbitterte Streit» zwischen den Rechten habe Sánchez «neues Leben eingehaucht».
Der 47-Jährige hatte im Februar nach nur gut achtmonatiger Amtszeit die Neuwahl ausgerufen, weil die katalanischen Separatisten ihm die Unterstützung entzogen hatten und er seinen Haushalt nicht hatte durchbringen können. Sánchez liegt zwar in Umfragen seit Wochen mit rund 30 Prozent vorne. Der Chef der sozialdemokratisch orientierten Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) musste aber fürchten, dass die konservative Volkspartei PP, die liberalen Ciudadanos und die aufstrebende rechtspopulistische Vox zusammen ausreichend Stimmen für eine Regierung bekommen. In der bevölkerungsreichsten Region Andalusien wird diese Zusammenarbeit bereits seit Februar geprobt.
Doch am Dienstag brachte die zweite und letzte TV-Debatte der vier wichtigsten Spitzenkandidaten die grosse Überraschung. PP-Mann Pablo Casado und Ciudadanos-Chef Albert Rivera liessen vor einem Millionenpublikum in ihren Attacken gegen Sánchez plötzlich nach und kriegten sich in die Haare. Rivera erinnerte an die vielen Korruptionsaffären in der PP, die im vorigen Juni zum Sturz des Konservativen Mariano Rajoy per Misstrauensvotum und zur Machtübernahme von Sánchez geführt hatten. Casado konterte und stellte Rivera als Politiker hin, der sein Fähnchen nach dem Wind drehe und fähig sei, auch mit den Linken eine Koalition zu bilden.
Nach der Debatte warb Ciudadanos in einer unerwarteten Aktion den Madrider PP-Chef Ángel Garrido ab. Vom Parteiwechsel erfuhr Casado aus den Medien. Sánchez versuchte sofort, Profit zu schlagen. «Die Rechten können sich nicht einmal untereinander über den Weg trauen. Wie sollen die Wähler ihnen vertrauen?», sagte er.
Diese «unerwartete Hilfe» werde viele Zentrumswähler und viele der laut den Umfragen rund 40 Prozent Unentschlossenen in die Arme von Sánchez treiben, analysierte «El Periódico». Der Analyst, Philosoph und Schriftsteller Josep Ramoneda mutmasst derweil, dass die Rechten den Kampf gegen Sánchez als «bereits verloren» betrachten.
Sánchez verkörpert nicht nur die Hoffnung der spanischen Sozialisten. Die linke Protestpartei Podemos hofft, schon fünf Jahre nach der Gründung als Koalitionspartner der PSOE erstmals Regierungsverantwortung übernehmen zu dürfen. Der einst streitbare Podemos-Chef Pablo Iglesias präsentierte sich bei den Debatten sehr zurückhaltend und als «höflichster» Teilnehmer. Er bot sich Sánchez vor den TV-Kameras mehrfach als zuverlässiger Partner an.
Aber auch ausserhalb Spaniens setzen viele, die nicht unbedingt mit sozialistischem Gedankengut sympathisieren, auf Sánchez. Die Londoner Wochenzeitschrift «The Economist» rief die Spanier dazu auf, den Sozialisten in der viertgrössten Volkswirtschaft der Eurozone am Sonntag mit einer regierungsfähigen Mehrheit auszustatten. «Noch mehr politischer Stillstand würde Spanien nicht gut bekommen.»
Gefürchtet wird eine Wiederauflage der «Blockade» von 2016. Nach Ende des faktischen Zweiparteiensystems aus PP/PSOE und der Zersplitterung der Stimmen war Spanien damals trotz zweier Wahlgänge innerhalb von sechs Monaten fast ein Jahr lang ohne reguläre Regierung geblieben. Anschliessend hielt die schwache Rajoy-Regierung nur gut eineinhalb Jahre. Die Minderheitsregierung von Sánchez mit nur 84 von insgesamt 350 Abgeordneten im Congreso de los Diputados hatte es noch schwerer.
In Madrid findet man heute nur wenige Optimisten. «Uns erwartet politische Ungewissheit, aber auch wirtschaftliche Unsicherheit in einer Zeit, in der aus dem Ausland Gegenwind kommt», analysierte zum Beispiel Javier García Vila, Direktor der Nachrichtenagentur Europa Press, schon kurz nach der Ausrufung der Neuwahl.
Inzwischen ist die Lage noch besorgniserregender als 2016. Die damals mit 0,2 Prozent der Stimmen praktisch nicht existente Vox soll nach Umfragen ein zweistelliges Ergebnis erreichen und erstmals in den Congreso einziehen. Die Partei von Santiago Abascal, die viele Stierkämpfer und Ex-Militärs in ihren Reihen hat, tritt unter anderem für eine Bekämpfung illegaler Einwanderung, ein Ende der «Diktatur der Feministinnen» und eine Lockerung des Umweltschutzes ein.
Einwanderung und Umwelt spielten derweil im Wahlkampf ebenso wie Europa und Brexit keine Rolle. Im Mittelpunkt stand ganz klar Katalonien. Die Rechten warfen Sánchez vor, gegenüber den Separatisten zu nachgiebig und ein «Verräter Spaniens» zu sein. Die Einheit Spaniens stehe auf dem Spiel, bei einem Sánchez-Sieg werde das Land «zerbrechen», rief Casado vor PP-Anhängern.
Sánchez, der 2016 nach dem schlechtesten Wahlergebnis der PSOE-Geschichte schon totgesagt war und dann doch auch scharfe interne Kritik überstand, hofft, dass die Rechte die ungenierte Nähe zu Vox teuer zu stehen kommen könnte. Und er setzt vor allem auf die Frauen, die 60 Prozent aller Unentschlossenen stellen sollen und denen er «Sicherheit und Gleichheit» versprach.
Am Tag vor der Wahl jährt sich ein Urteil gegen fünf junge Männer in einem aufsehenerregenden Prozess um eine Gruppenvergewaltigung. Das niedrige Strafmass trieb damals im ganzen Land Zehntausende Frauen zu Protesten auf die Strassen. «Die Stimmen der Frauen werden diesmal entscheidender denn je zuvor sein», sagte Belén Zurbano Berenguer, Professorin für Frauen- und Geschlechter-Forschung an der Uni Sevilla. «Der Kampf und die Forderungen der Frauen sind am Brodeln.»