EU-Recht verstösst teils gegen polnische Verfassung
Im Streit zwischen Warschau und Brüssel über Polens Justizreform droht eine neue Eskalationsstufe. Polens Verfassungsgericht entscheidet: Bestandteile des EU-Rechts verstossen gegen die Verfassung des Landes.
Das Wichtigste in Kürze
- Immer wieder hatte Polens Verfassungsgericht seine Entscheidung zu der brisanten Frage vertagt: Was hat Vorrang - nationales Recht oder EU-Recht?
Die Richter liessen die Katze aus dem Sack: Teile des EU-Rechts seien nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar, urteilten sie. «Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstösst gegen (...) die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration bewahrt bleibt», hiess es.
Damit wird der Konflikt zwischen der EU-Kommission, die in der Staatengemeinschaft die Einhaltung des gemeinsamen Rechts überwacht, und Polen über die dortigen Justizreformen kräftig befeuert. Die Brüsseler Behörde stellte sogleich klar, dass man an den Grundprinzipien der europäischen Rechtsordnung festhalte: EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht. Alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) seien für die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bindend.
Man werde das Urteil nun im Detail analysieren und dann über weitere Schritte entscheiden. «Die Kommission wird nicht zögern, von ihren Befugnissen gemäss der Verträge Gebrauch zu machen und eine einheitliche Anwendung und die Integrität des EU-Rechts zu gewährleisten.» Welche Reaktion das konkret sein könnte, liess auch EU-Justizkommissar Didier Reynders bei einer Pressekonferenz in Brüssel offen. Er stellte jedoch in Aussicht, dass sie schnell kommen könnte - binnen Tagen oder Wochen.
Andere Politiker wurden deutlicher: «Das Urteil hat historische Ausmasse», sagte die Vize-Präsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley (SPD). Polen könne sich damit nach Belieben von den gemeinsam vereinbarten europäischen Regeln verabschieden. Entsetzt zeigte sich auch der luxemburgische Aussenminister Jean Asselborn. «Das Urteil macht die Grundidee der europäischen Integration kaputt», sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Es dürfe kein EU-Geld mehr in Länder fliessen, die aus der europäischen Rechtsordnung ausscheren.
Tatsächlich könnte die EU-Kommission nach dem Urteil ein neues Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Staaten auf den Weg bringen, das zur Kürzung der EU-Mittel für Polen führen könnte. Auch milliardenschwere EU-Corona-Hilfen für Polen sind wegen Rechtsstaatlichkeitsbedenken bislang nicht freigeben.
In dem Verfahren vor dem polnischen Verfassungsgericht ging es konkret darum, ob Bestimmungen aus den EU-Verträgen, mit denen die EU-Kommission ihr Mitspracherecht bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit begründet, mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte das Gericht gebeten, ein Urteil des EuGH vom 2. März 2021 zu überprüfen. In dem Urteil hatten die obersten EU-Richter festgestellt, dass EU-Recht Mitgliedstaaten zwingen kann, einzelne Vorschriften im nationalen Recht ausser acht zu lassen, selbst wenn es sich um Verfassungsrecht handelt. Laut EuGH könnte das Verfahren zur Besetzung des Obersten Gerichts in Polen gegen EU-Recht verstossen. Dies würde bedeuten, dass der EuGH Polen zwingen könnte, Teile der umstrittenen Justizreform aufzuheben.
«Die Organe der EU handeln ausserhalb der Grenzen der Kompetenz, die ihnen von Polen zuerkannt wird», sagte Przylebska bei der Urteilsverkündung.
Der mächtige PiS-Vorsitzende und polnische Vize-Regierungschef Kaczynski triumphierte nach der Urteilsverkündung, die EU habe in Sachen Justizwesen «nichts zu sagen» und in bestimmten Sphären eben nicht das Recht, sich einzumischen. «Die Priorität des Verfassungsrechts über anderen gesetzlichen Quellen ergibt sich buchstäblich aus der Verfassung Polens», schrieb Regierungssprecher Piotr Müller auf Twitter.
Vertreter der polnischen Opposition werteten das Urteil als Zeichen dafür, dass die PiS Polen aus der EU führen will. «Die Nicht-Anerkennung von EuGH-Urteilen ist de facto der Weg zum Polexit», schrieb Borys Budka vom liberalkonservativen Oppositionsbündnis Bürgerkoalition. Polen könne EU-Hilfen im Umfang von Milliarden verlieren, befürchtete Budka.
Konsequenzen forderte nicht nur Luxemburgs Aussenminister Asselborn, sondern auch der EU-Parlamentspräsident David Sassoli. Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts dürfe nicht ohne Folgen bleiben, schrieb er auf Twitter - und forderte die EU-Kommission auf, «die nötigen Schritte» einzuleiten.