Putins neue «repressive Maschine»
Wladimir Putin begann sein neues Jahr diese Woche ganz nach seinem Geschmack: mit internationaler Politik. Und nicht per Videoschalte, sondern mit Handschlag.
Das Wichtigste in Kürze
- Im Kreml begrüsste Russlands Präsident nach langen Neujahrsferien die Gegner im gerade beigelegten Krieg um die Südkaukasusregion Berg-Karabach.
Beim Treffen mit Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev und Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan lobte Putin den unter seiner Vermittlung ausgehandelten Waffenstillstand. Weltpolitik im Kreml - das gab es wegen Corona lange nicht so hautnah. Der 68-Jährige war in seinem Element.
Es war ein ganz anderer Jahresauftakt als 2020. Damals hatte der Kremlchef sein Land überrascht. Angesichts der schweren Wirtschaftskrise in Russland entliess Putin am 15. Januar seinen politischen Ziehsohn Dmitri Medwedew als Regierungschef.
Er machte Michail Mischustin, bis dahin Chef der Steuerbehörde, zum neuen wichtigsten Krisenmanager. Ein Jahr später gilt der 54-Jährige den Umfragen zufolge nun als wichtigster Politiker Russlands nach Putin. Er baut nicht nur die Staatsverwaltung um. Manche sehen den souveränen Redner mit der sonoren Stimme für Höheres berufen.
2024 ist die nächste Präsidentenwahl. Zwar hat sich Putin durch eine von ihm selbst angestossene Verfassungsänderung die Möglichkeit zweier weiterer Amtszeiten gesichert.
Er könnte bis 2036 bleiben - und hat sich gerade per Unterschrift unter ein neues Gesetz Straffreiheit auf Lebenszeit verschafft. Ob er aber nach mehr als 20 Jahren an der Macht wirklich noch einmal antritt, lässt er offen.
Die Zustimmungswerte des Kremlchefs sinken. Die Proteststimmung im Land wächst laut Meinungsumfragen. Die Russen stellen sich auf ein Jahr voller wirtschaftlicher, politischer und persönlicher Schwierigkeiten ein, wie Soziologen des Lewada-Zentrums in Moskau ermittelten.
Am 19. September sind Parlamentswahlen. Schon 2020 sei von den Befragten als das schwerste Jahr seit 30 Jahren beurteilt worden. Klagepunkte: Geringe und weiter sinkende Einkommen, steigende Arbeitslosigkeit und hohe Lebensmittelpreise.
Zwar ordnete Putin an, dass die Preise etwa für Zucker und Speiseöl umgehend sinken mögen. Das Handeln aber überlässt er der Regierung. Zahlreiche Kommentatoren sehen immer deutlichere Signale dafür, dass der Präsident das Feld anderen überlässt - und womöglich auch einen Machttransfer vorbereitet.
«Putin wird allmählich zu einem Symbol», meint die Politologin Tatjana Stanowaja in einer Analyse der Denkfabrik Moskauer Carnegie-Zentrum. Das erste Mal überhaupt vertraue Putin einer starken Regierung mit echtem Mandat wichtige Entscheidungen an und delegiere grosse Aufgaben.
Seit Beginn der Pandemie regiert er weitgehend zurückgezogen in seiner Moskauer Vorstadtresidenz per Video, hat den Regionen etwa selbst überlassen, welche Einschränkungen sie im Kampf gegen das Coronavirus ergreifen.
Gouverneure, Bürgermeister, die Regierungsmitglieder - sie alle sind gefragt, mehr Verantwortung zu übernehmen, ohne auf Vorgaben aus dem Kreml zu warten.
Putin strotze vor Selbstbewusstsein und bleibe der «Garant für Stabilität», ziehe sich aber aus dem Tagesgeschäft zunehmend zurück, stellt Stanowaja fest.
Für ihn seien Fragen der Weltpolitik - die Sanktionen der EU und der USA gegen Russland etwa - wichtiger als die alltäglichen Probleme zuhause, darunter der Kampf mit Systemgegnern. Es gebe eine Kriegserklärung an die Opposition.
Putin-Gegner wie der im August mit einem Nervengift beinahe getötete Alexej Nawalny würden zu Kriminellen und Landesverrätern erklärt. Die Geheimdienste und der gesamte Sicherheitsrat hätten das Mandat, alles «Anti-Putinsche» zu unterdrücken.
«Der Staatsapparat wird zu einer repressiven Maschine», meint die Expertin. Das System tue alles, um sich selbst zu erhalten - und mit Erfolgsmeldungen bei Putin ein Wohlgefühl zu erzeugen.
«Das neue Jahr verspricht ein schweres und gefährliches zu werden für alle mehr oder weniger unabhängigen Gruppen der Bürgergesellschaft, für die echte Opposition, für unabhängige Journalisten und Blogger - für alle, die dem Machtapparat Fragen stellen und Antworten fordern», sagt Stanowaja.
Auch Menschenrechtler beklagen immer wieder ein Anziehen der Daumenschrauben mit Blick auf die jüngsten Gesetzesinitiativen etwa zur noch schärferen Kontrolle des Internets.
«Es ist offensichtlich, dass der Autoritarismus brutaler geworden ist», finden Experten des Carnegie-Zentrums. «Nach der Vergiftung Nawalnys scheut der Machtapparat vor nichts mehr zurück.» Das bedeute letztlich auch eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zum Westen und eine Zunahme der Repressionen im Land.
Das Fazit der Denkfabrik: «Dieses System ist schon zu keinen Versuchen auch nur minimaler Modernisierungen mehr fähig.»