Istanbul gehört zu den am stärksten von Erdbeben gefährdeten Städten der Welt - und das nächste könnte direkt vor der Tür beginnen. Vor 20 Jahren starben im Grossraum rund 18.000 Menschen bei schweren Erdstössen. Ist Istanbul heute besser vorbereitet?
Istanbul Metropole
Blick auf Istanbul. Zur Zeit leben etwa 15 Millionen Menschen in der Metropole am Bosporus. Acht leicht Verletzte waren nach dem Erdbeben zu beklagen. Foto: Sedat Suna/EPA - DPA

Das Wichtigste in Kürze

  • Am Bosporus sieht es im Sommer 1999 aus, als sei die Stadt ins Wasser gerutscht.
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Häuser liegen neben Schiffen, Boote neben Brücken, das Wasser braun und nicht mehr vom berühmten Bosporusblau. Im Zentrum von Istanbul stürzen Minarette wie Geschosse in Wohnungen.

Appartementhäuser klappen zusammen, Menschen springen von Balkonen. 45 Sekunden lang wankt, nein, springt die Erde im August 1999 im Grossraum Istanbul. Am Samstag ist das 20 Jahre her. Es war eines der verheerendsten Erdbeben des Jahrhunderts. Die Stärke lag bei 7,4.

18.373 Menschen starben nach offiziellen Angaben damals in der Region, rund 24.000 wurden verletzt. In einem Bericht der Istanbuler Bauingenieurskammer steht, dass im Grossraum 140.000 Gebäude komplett kollabierten und 330.000 Häuser und 50.000 Dienstgebäude beschädigt wurden.

Istanbul ist eine der am stärksten von Erdbeben gefährdeten Städte der Welt. Aber der Vorsitzende der Bauingenieurskammer, Nusret Suna, warnt, dass sie auch heute noch nicht für ein weiteres grosses Beben gewappnet sei. Gleichzeitig wächst die Gefahr.

Grosse Beben gab es auch früher schon und viele - aber die Epizentren tasten sich im aktuellen Erdbebenzyklus entlang der Nordanatolischen Verwerfungslinie immer weiter an Istanbul heran. Die mehr als 1000 Kilometer lange Verwerfung, in der zwei grosse Erdplatten aneinanderstossen, läuft quer durch die nördliche Türkei und «ist mit einer ganzen Serie von Beben seit 1939 von Osten nach Westen immer weiter aufgerissen - wie ein Reissverschluss», sagt Heidrun Kopp vom Kieler Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung.

Beim grossen Beben vor 20 Jahren lag das Epizentrum noch fast 100 Kilometer östlich von Istanbul. Diesmal erwarten die Forscher, dass es unter dem Marmarameer liegen könnte - direkt vor Istanbul. Heidrun Kopp hat erst im Juli eine Studie veröffentlicht, in der die Rede ist von erheblichen tektonischen Spannungen unter dem Marmarameer. Sie würden reichen, um ein Beben der Stärke 7,1 bis 7,4 auszulösen, schrieben sie und ihre Kollegen im Fachblatt «Nature Communications».

Es gibt für die Erbebensicherung zwar ein Stadterneuerungsprojekt, aber das habe die Regierung vor allem genutzt, um Profit zu machen und den Bausektor anzukurbeln, kritisiert Nusret Suna von der Bauingenieurskammer. Er zeichnet ein apokalyptisches Bild: Geschätzt eine Million Gebäude in Istanbul seien nicht sicher.

Die Katastrophenschutzbehörde Afad will sich zum aktuellen Stand der Planungen nicht äussern, aber man weiss dort von der Gefahr. Ein Bericht der Nachrichtenagentur DHA hatte im Sommer 2018 die Ergebnisse eines Workshops mit der Stadtverwaltung geschildert. Darin wird der Leiter der Afad-Abteilung für Erdbeben zitiert mit den Worten, dass bei einem Beben der Stärke 7,6 allein in Istanbul 26.000 bis 30.000 Menschen getötet werden könnten. Rund 2,4 Millionen Menschen wären ohne Dach über dem Kopf. Freiflächen, auf denen sich die Menschen versammeln können, seien vorbereitet.

Gerade die Versammlungsplätze sind aber ein Streitpunkt. In den Augen der Bauingenieurskammer gibt es viel zu wenige. Viele Flächen seien zugebaut worden, und Afad weise auch Spielplätze und kleine Grünflächen als Versammlungsorte aus, sagt Nusret Suna. Dort könnten die Menschen aber nicht Tage oder Wochen ausharren. «Wo sollen sie schlafen? Sollen sie etwa in diesen Gärten aufrecht stehen?»

Istanbul komplett erdbebensicher zu machen dürfte 15 bis 20 Jahre dauern, schätzt Suna. Die Jahre seit dem Beben von 1999 nennt er «verloren». Je nach Bausubstanz müssten Gebäude verstärkt oder abgerissen werden. Für Neubauten fordert er effektivere Kontrollen, weil manche Bauunternehmer oder Besitzer an den Materialien sparten. Andere Gebäude nähmen die Behörden als sicher ab, erzählt er - und dann setze der Besitzer illegal noch Stockwerke drauf. Die Verantwortung liege bei der Regierung, sagt Suna. Die Mieter seien machtlos. «Sie heben die Hände in die Höhe und beten zu Gott.»

Wann das nächste Beben losbricht, sei nicht berechenbar, sagen Experten wie Heidrun Kopp. Wenn es in der befürchteten Heftigkeit kommt, dürfte es die Stadt härter treffen als 1999. Nicht nur, weil das Epizentrum dann vor der Haustür liegt. Damals lebten rund 10,8 Millionen Menschen in Istanbul. Heute sind es geschätzt 16 Millionen.

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