Wohlstand bröckelt: Viele kommen an finanzielle Grenzen
Ökonomen blicken pessimistisch in die nahe Zukunft. Die Inflation könnte weiter steigen, zahlreiche Haushalte mit ihrem Geld kaum über die Runden kommen. Der Wohlstand könnte dauerhaft sinken.
Das Wichtigste in Kürze
- Bei der Inflation ist keine anhaltende Entspannung in Sicht - im Gegenteil: Vieles dürfte demnächst noch teurer werden.
Nach Einschätzung von Bundesbankpräsident Joachim Nagel könnte die Teuerung in den Herbstmonaten zweistellig werden. «Der Tankrabatt und das Neun-Euro-Ticket laufen aus, das dürfte die Inflationsrate um gut einen Prozentpunkt erhöhen», sagte Nagel der «Rheinischen Post» (Samstag). Hinzu komme die Gasumlage, auch wenn es über die geplante Mehrwertsteuersenkung auf Gas Entlastung gibt. In Summe sei eine Inflationsrate von zehn Prozent möglich. Die Folge: Die Mehrheit der Bundesbürger kommt nach Einschätzung der Sparkassen wegen der hohen Inflation zunehmend an finanzielle Grenzen.
«Wir rechnen damit, dass wegen der deutlichen Preissteigerung perspektivisch bis zu 60 Prozent der deutschen Haushalte ihre gesamten verfügbaren Einkünfte – oder mehr – monatlich für die reine Lebenshaltung werden einsetzen müssen», sagte der Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV), Helmut Schleweis, der «Welt am Sonntag». Laut Sparkassen-Vermögensbarometer waren vor einem Jahr lediglich 15 Prozent nicht in der Lage, Geld zurückzulegen.
Auch Volks- und Raiffeisenbanken beobachten einen geringeren Spielraum der Kunden. «Die hohe Inflation entzieht den Verbrauchern Kaufkraft, dadurch sinkt die Sparfähigkeit», sagte der Vorstand des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), Andreas Martin, der Zeitung. Noch profitierten viele von Ersparnissen, die sich während der Corona-Zeit wegen fehlender Konsummöglichkeiten angesammelt hätten. «Der Spitzenwert der Sparquote lag bei rund 16 Prozent im Jahr 2020, für 2022 erwarten wir eine Rückkehr auf das Vorkrisenniveau von elf Prozent», sagte Martin.
DIW-Präsident befürchtet Abwärtsspirale
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, befürchtet eine Abwärtsspirale: «Eine hohe Inflation drückt die Kauflaune der Kunden, das sorgt für weniger Geld bei den Unternehmen, um zu investieren. Das könnte eine Abwärtsspirale mit einer für ein oder zwei Jahre anhaltenden schwachen Wirtschaftsleistung in Gang setzen», sagte Fratzscher dem «Spiegel». Der «Preisschock» sorge für einen permanenten Wohlstandsverlust in grossen Teilen der Bevölkerung.
Bundesbankpräsident Nagel macht die historische Dimension deutlich: «Zweistellige Inflationsraten wurden in Deutschland das letzte Mal vor über siebzig Jahren gemessen.» Im vierten Quartal 1951 habe die Inflationsrate nach den damaligen Berechnungen bei elf Prozent gelegen. Auch für das kommende Jahr gebe es keine Entwarnung. «Das Thema Inflation wird 2023 nicht verschwinden.» Nachdem im Gesamtjahr 2022 die Inflationsrate nach europäischer Berechnung bei acht Prozent liegen dürfte, erwartet Nagel für das kommende Jahr eine Rate von sechs Prozent. Haupttreiber bleiben die Energiekosten.
Bei den Sparkassen rechnet man im Herbst und Winter mit einer Verschärfung der Situation, gerade bei Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen. Die angespannte Lage zeige sich bereits bei der Überziehung des Girokontos. Wer den sogenannten Dispositionskredit nutze, um kurzfristige Engpässe zu überbrücken, der schöpfe den Rahmen im Durchschnitt inzwischen «deutlich weiter aus».
Zinserhöhungen zur Inflationsbekämpfung gefordert
Die Grünen fordern, die Höhe der Dispozinsen zu begrenzen, die im Schnitt aktuell bei knapp zehn Prozent liegen. «Grundsätzlich halten wir Grüne es für notwendig, Dispozinsen gesetzlich zu deckeln», sagte der Grünen-Finanzpolitiker Stefan Schmidt. Der Zinsdeckel solle die Menschen vor ausufernden Kosten schützen.
Nagel forderte zur Inflationsbekämpfung weitere Zinserhöhungen durch die Europäischen Zentralbank (EZB). Die nächste Sitzung findet am 8. September statt. «Entscheidend wird sein, die mittelfristigen Inflationserwartungen stabil bei zwei Prozent zu halten. Ich bin davon überzeugt, dass der EZB-Rat die dafür notwendigen geldpolitischen Massnahmen ergreift», so der Bundesbankpräsident. Die Tarifpartner rief er zu verantwortungsvollen Tarifabschlüssen auf.
Die Bundesregierung sucht derweil weiter nach Wegen, um die Folgen der gestiegenen Inflation zu mildern. Entschieden wird über ein drittes «Entlastungspaket» wohl erst im September.