Tegnell über Coronavirus: Balanceakt zwischen Schaden & Nutzen
Schweden ist schon vielfach für seinen Umgang mit dem Coronavirus kritisiert worden. Staatsepidemiologe Tegnell sieht darin aber keinen «Sonderweg».
Das Wichtigste in Kürze
- Seit Wochen steigen die Corona-Fallzahlen in Schweden wieder.
- Das Land hat in der Pandemie-Bekämpfung vergleichsweise auf milde Massnahmen gesetzt.
- Anders Tegnell glaubt dennoch, dass das Leben der Schweden stark eingeschränkt ist.
Schweden steckt mitten in der dritten Welle des Coronavirus. Seit Mitte Februar steigen die Corona-Fallzahlen wieder. Derzeit weist das skandinavische Land pro Woche über 380 Neuinfektionen mit dem Coronavirus auf 100'000 Einwohner auf. Zum Vergleich: Die Schweiz kommt trotz steigender Zahlen derzeit auf eine 7-Tage-Inzidenz von rund 142.
Der Anstieg hat sich aber bisher nicht negativ auf die Corona-Todeszahlen in Schweden ausgewirkt. Die täglichen Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus sind so tief wie zuletzt am Anfang der zweiten Welle im Oktober. Schweden ist bisher in der Corona-Krise einen Sonderweg mit vergleichsweise wenigen und milden Beschränkungen gegangen.
Dennoch gelten bestimmte Einschränkungen: Seit November dürfen sich zum Beispiel nur noch acht Personen versammeln, Restaurants und Kneipen müssen um 20.30 Uhr schliessen. Auch die Besucherzahlen in Läden, Fitnessstudios und anderen Einrichtungen wurden begrenzt. Hinzu kommen eindringliche Appelle, Vernunft walten zu lassen und sich an Empfehlungen etwa zum Abstandhalten zu richten.
«Sonderweg» im Umgang mit Coronavirus «ein Mythos»
Von einem schwedischen «Sonderweg» will aber Staatsepidemiologe Anders Tegnell nichts wissen: «Das ist in weiten Teilen ein Mythos», sagt er diese Woche in einem grossen Interview mit der deutschen «Tagesschau». «Wir haben unser Verhalten hier in der Bevölkerung auf eine sehr radikale Art verändert. Wir haben sehr viel weniger physischen Kontakt miteinander, als wir es früher hatten.»
Von einem normalen Leben sei die schwedische Bevölkerung weit entfernt. So arbeite der grosse Teil der Bevölkerung durchgehend im Homeoffice, was vorher nicht der Fall gewesen sei. «Wir wissen, dass das Reisen in Schweden drastisch weniger geworden ist, verglichen mit den Jahren zuvor. Wir wissen, dass man deutlich weniger in Geschäften einkauft», erläutert Tegnell zudem.
«Haben Ziele auf diese Art erreicht»
Es gebe Auflagen für Restaurants, für grosse Kaufhäuser, für Museen und ähnliche Einrichtungen. Schweden hätte sich bewusst auf Stellen fokussiert, an denen eine erhöhte Infektionsgefahr bestehe. «Ein kompletter Lockdown dagegen hätte sehr grosse Auswirkungen.»
«Wir haben im Frühling und Herbst gesehen, dass wir auch Effekte erzielen, wenn wir andere Massnahmen ergreifen. Mitte April sanken die Infektionszahlen und auch wieder vor Weihnachten», so Tegnell im «Tagesschau»-Interview. Die Infektionsausbereitung habe in Schweden erst sehr viel später zugenommen als in anderen Ländern. Kurz vor Weihnachten sei sie wieder heruntergegangen: «Wir haben also Ziele auch auf diese Art erreicht.»
Tegnell: Schulen nicht gefährlicher als viele andere Orte
Im Gegensatz zu anderen Ländern blieben Grundschulen und Unterstufen in Schweden während der gesamten Pandemie geöffnet. «Es ist die ganze Zeit ein Balanceakt zwischen dem Schaden, den man anrichtet und dem Nutzen, den man hat.» Man sei immer überzeugt gewesen, «dass die Schulen zu schliessen zu sehr viel grösseren Schäden führt».
Schweden habe Studien gemacht, die zeigen, dass sich Kinder etwa halb so oft mit dem Coronavirus infizieren wie Erwachsene. Auch würden sie viel seltener Erwachsene anstecken als umgekehrt. «Wir haben uns auch die Berufsgruppe der Lehrer angesehen und herausgefunden, dass diese nicht stärker betroffen ist als andere Berufsgruppen.»
Der Staatsepidemologe ist überzeugt: «Wir haben viele Belege dafür, dass die Schulen nicht gefährlicher sind als viele andere Orte.» Es sei dahingegen ein sehr wichtiger Ort, damit Kinder auch in Zukunft eine gute Gesundheit und Ausbildung hätten.
Über Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion bei Kindern habe er bisher keine Studien gesehen. «Wir müssen abwarten und werden sehen, was die kommenden Untersuchungen für Ergebnisse bringen werden.» Sicher sei dagegen, dass man in Schweden als Kind einem deutlich geringeren Risiko ausgesetzt sei, seinen Abschluss nicht zu schaffen: Zumindest «verglichen mit den Ländern, die die Schulen geschlossen haben», sagt Tegnell.