Turbanschlagen und blutrote Brunnen
Seit zwei Monaten gehen vor allem Frauen und junge Menschen im Iran auf die Strassen, um gegen die repressive Politik zu demonstrieren. Der Sicherheitsapparat reagiert mit grösster Härte. Auch deswegen entwickeln sich neue Formen des Protests.
Als die junge iranische Kurdin Mahsa Amini am 16. September im Polizeigewahrsam stirbt, ist die Nation erschüttert. Aufgegriffen von der Sittenpolizei wegen ihres unislamischen Outfits, steht ihr Tod bis heute als Symbol für die systemkritischen Proteste. Der Staat reagiert seitdem mit äusserster Härte, um Versammlungen und Proteste zu unterbinden. Irans politische Führung steht unter Druck wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Knapp 15 000 Demonstranten wurden nach Schätzungen von Menschenrechtlern festgenommen, mehr als 340 Menschen sind im Rahmen der Proteste getötet worden.
Vielerorts herrscht ein Klima der Sorge vor einer weiteren Eskalation. Und mit der Einschränkung des Internets wird die Organisation von Protesten zunehmend schwieriger. Auch deswegen suchen die Anhänger der Proteste nach weiteren Möglichkeiten, ihren Unmut auszudrücken. Mit neuen Formen des zivilen Ungehorsams bieten die Demonstranten dem Staat die Stirn. Ein Überblick:
Turbanschlagen
Ein bekanntes Phänomen des zivilen Ungehorsams richtet sich direkt gegen Irans Mullahs. Auf tausendfach geteilten Videos im Netz läuft zunächst ein schiitischer Geistlicher eine Strasse entlang, während sich plötzlich jemand von hinten anschleicht. Erst ein paar vorsichtige Schritte, dann ein kurzer Sprint – und schon wird dem Prediger der Turban vom Kopf geschlagen.
Kaum eine Gesellschaftsgruppe steht seit Ausbruch der Proteste so sehr in der Kritik wie die Mullahs. Für viele Leute verkörpern sie Geschlechterungerechtigkeit, den autoritären Kurs der Regierung und die strengen Kleidungsvorschriften. Sie stehen auch für das Regierungssystem der Islamischen Republik. Gleichzeitig richten sich bei den Strassenprotesten viele Slogans gegen Irans Staatsoberhaupt, den Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei.
Inzwischen tauchen auch Videos auf, in denen Geistliche einen Schal um ihren Turban binden, damit dieser fest auf dem Kopf sitzt. In den sozialen Medien spotten Kritiker über die Mullahs, die immer noch eine zentrale Rolle in Irans politischem System ausüben.
Umarmungen
Das Austauschen von Zärtlichkeiten gilt in dem islamischen Land als Privatsache. Dass Pärchen in den Metropolen Händchen haltend durch die Innenstadt laufen, ist jedoch seit Jahren nichts ungewöhnliches mehr. Gleichzeitig stören sich junge Leute häufig an den bestehenden Vorschriften und suchen immer neue Wege, die strengen Regeln und gesellschaftlichen Normen zu brechen. Ein Beispiel: Während eine junge Frau ohne das vorgeschriebene Kopftuch am Strassenrand mit ausgebreiteten Armensteht, hängt im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift: «Für die traurige Nation Iran». Die Aufforderung zur Umarmung nehmen vorbeigehende, fremde Menschen gerne an. Das Bild wird tausendfach geteilt im Netz. Die eigentlich unerlaubte Aktion motiviert andere Iranerinnen, sie nachzuahmen.
Kunstblut
Nach dem gewaltsamen Vorgehen der Sicherheitskräfte hat auch die iranische Kunstszene Protestaktionen gestartet. So wurden immer wieder Videos mit blutrot gefärbten Brunnen geteilt, ob in der Hauptstadt Teheran oder im Zentraliran. Mit der Protestaktion, die an die getöteten Demonstranten erinnert, erfolgt auch eine kulturelle Umdeutung, denn während des Iran-Irak-Kriegs (1980-1988) färbten Systemanhänger die Brunnen der Friedhöfe für ihre Märtyrer blutrot.
Ähnliche Protestaktionen zielen auf den stark kontrollierten öffentlichen Raum. So wurden etwa metergrosse Plakate einflussreicher Staatsmänner mit roter Farbe übergossen. Die ungewöhnliche Kritik dürfte der Führung in Teheran ein besonderer Dorn im Auge sein.
Hashtags
Eine weitere Protestform in der Öffentlichkeit zielt auf die Verbreitung bekannter Hashtags, die in den sozialen Medien zur Markierung von Beiträgen genutzt werden. Ob an Autobahnbrücken oder Häuserwänden, vielerorts schreiben Protestteilnehmer etwa den Namen der iranischen Kurdin Mahsa Amini gut sichtbar mit Graffiti auf. Die Aktion ist nicht ungefährlich, es sollen bereits Menschen deswegen verhaftet oder getötet worden sein.
Zettelbotschaften
Während der Staat das Internet wegen der Proteste immer drastischer einschränkt, verbreiten Demonstranten Botschaften auf kleinen Zetteln, die unauffällig auf der Strasse weitergegeben werden. Waren die sozialen Medien wie Instagram vor ihrer Sperrung noch beliebte Orte, um Demonstrationen zu organisieren, rufen die Menschen nun mit Nachrichten auf Zettelchen dazu auf. Mit Zeichnungen und Sprüchen auf den Papierschnipseln machen sich die Demonstranten zusätzlich Mut.